„Das Gasthaus“ von Rumi
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam Dein Haus
seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu Dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu Deiner Führung
geschickt worden aus einer anderen Welt.
Das, was Rumi als „Gäste“ bezeichnet – mit dem ist normalerweise das personale Ich identifiziert. Das bedeutet, es fühlt sich traurig oder böse – nur weil da gerade Gedanken sind, welche diese Gefühle auslösen. Klar kommt man nicht einfach so aus dem Ich heraus! Aber wenn ich wach bin, wenn ich voll im Moment präsent bin und bemerke, dass da Trauer ist, kann ich sie anschauen und würdigen.
Dann entsteht eine Trennung zwischen dem Gefühl und mir selbst und ich spüre, dass ich da bin und dort dieses Gefühl ist, das daher nicht identisch mit mir selbst sein kann. Es ist in mir – es ist eine Erscheinung, ein Gast. Natürlich ist das Bewusstsein und sein Inhalt eins – aber das ewige Bewusstsein ist der Gastgeber der temporären Erscheinungen – warum soll sich die Ewige Ursache mit dem Temporär Verursachten identifizieren und sich schlecht fühlen?
Mich würde nur interessieren, warum Rumi von einem „kurzen Moment von Achtsamkeit“ spricht – möglicherweise spricht er aus der Sicht des Lesers.