Musik hört sich selbst

Mittagspause. Ich höre gerade eine Entspannungsmusik, um die Geräusche in dem Großraumbüro zu kompensieren, in dem ich gerade arbeite, weil mein eigenes Büro zur Zeit saniert wird. Das fühlt sich so an, dass jedesmal wenn ein Ton ertönt, an den „Koordinaten des Tons“ ein Wahrnehmungsfeld erzeugt wird, mit dem Ton als exakten Mittelpunkt, der sich dann radial nach außen verbreitet. Ähnlich, wie wenn ein Tropfen Wasser auf eine absolut ruhige Wasseroberfläche fällt – was radiale Wellen ergibt, die sich gleichmäßig nach außen verbreiten.

Diesen Effekt kann man am besten wahrnehmen, wenn man die Musik mit einem Kopfhörer hört – gerade bei den klaren und abgegrenzten Klavier-Tönen. Es ist eindeutig zu fühlen, dass jeder Ton woanders ertönt und an genau dieser Stelle „fällt der Tropfen ins Wasser„. Jeder dieser „Ton-Tropf-Akte“ ist ein neues Wahrnehmungsfeld – eine neue Existenz.

Wieso hört die Musik sich selbst? Naja, das ist nicht ganz richtig. Musik kann sich nicht selbst hören. Das, was die Musik erzeugt und hört, ist Bewusstsein. Das Bewusstsein wendet sich abwechselnd sich selbst zu und wieder ab. Das erzeugt die subtile Vibration, die wahrgenommen werden kann. Wie das genau funktioniert, kann man hier nachlesen.

Curving Back on Myself, I Create Again and Again.“ — Bhagavad Gita
Look at these worlds spinning out of nothingness. That is within your power.” — Rumi
Impermanence is Buddha-nature.“ — Dogen

In jedem Durchgang erkennt das Bewusstsein sich selbst und kann dabei auch Informationen transportieren, zB „einen Moment Musik„. Indem das Bewusstsein sich selbst erkennt, erkennt es auch das Stückchen Musik – über den Umweg eines Ohres – und somit wird ihm das bewusst.

Wenn sehr viele dieser Momente zusammen gesetzt werden, dann ergibt sich daraus ein Wahrnehmungs-Strom – was gewöhnlich „mein Leben“ genannt wird – nur dass es weder „ich„, „mich„, noch „mein“ gibt. Das sind nur Bedeutungen, die dem anonymen Wahrnehmungs-Strom zugeschrieben werden aber nicht real vorhanden sind.

Bewusstsein erkennt sich selbst und – mittels hervorgebrachter Organismen und deren Sinnen – auch das, was mit diesem Erkennen zusammen erkannt wird – daher wird kein zusätzlicher Beobachter benötigt. Hervorbringung der Erscheinung, Erscheinung und Erkennen der Erscheinung sind ein und dasselbe.

Im Buddhismus gibt es den Begriff „Bedingtes Entstehen“ (Dependent Orgination) Das bedeutet im Wesentlichen, dass nichts aus sich selbst heraus existiert, sondern alles in gegenseitiger Abhängigkeit. Auch bekannt als „Ursache und Wirkung„: wenn A passiert, geschieht B, wenn C erscheint, verschwindet D. Aber damit etwas auf etwas anderes reagieren kann, muss erst etwas da sein, das in der Lage ist zu wissen, zu fühlen und zu reagieren – das ist Bewusstsein. Bewusstsein IST die Dinge und animiert und weiß sie gleichzeitig. Man kann es auch einfach „das erkennende und belebende Prinzip“ nennen. Ohne dieses gäbe es gar nichts.

Das hier Beschriebene ist der natürliche Wahrnehmungs- und Existenz-Modus. Das ist total gewöhnlich und kann daher nicht als „Erleuchtung“ beschrieben werden, denn dieses Wort suggeriert, dass es sich um etwas Außerordentliches und Besonderes handeln muss. Es ist aber genau anders herum: Das nicht zu sehen, ist Verblendung und Ignoranz – und das zu sehen, ist der Wegfall der Verblendung und der Beginn der Normalität.


Nachtrag: Ich sehe nicht die geringste Chance, einen normalen Menschen aus diesem Sumpf heraus zu holen – wenn nicht die Existenz durch diesen Punkt so wirkt, dass er aus seiner Sicht heraus gezwungen wird. Wenn einer kommt und wirklich wissen will, dann kann ihm geholfen werden. Aber das habe ich bislang noch nicht erlebt. Zwar bekundet ab und zu einer Interesse – aber sobald ich mit „Meditation und Übung zur Stabilisierung“ anfange (das ist echte Arbeit), erlischt jedes Interesse sofort.

Wenn einer auf Berge steigen will, ist klar, dass er lernen muss zu klettern. Bei Selbst-Erkenntnis, scheint die Mehrzahl zu glauben, dass es reicht, ein gutes Buch zu lesen oder auch mehrere. Die tatsächliche Relation sieht so aus:

Worte, mehr Worte, viele Worte →
Denken, mehr denken, viel denken →
Wenig verstehen, weniger verstehen,
überhaupt nichts mehr verstehen.

Denken und Kontemplation ist notwendig – aber mit den eigenen Worten und erst dann, wenn bereits etwas gesehen und erkannt wurde. Ohne diese Einblicke sind Worte einfach nur zusätzliche Schleier über der Realität. In dieser Hinsicht kann mir niemand etwas vormachen – denn diese Fehler habe ich alle selbst gemacht.

Die Wahrheit ist so einfach, dass jedes Wort zwei zuviel sind…