Die Ich-Idee

Das relative Ich (Selbst) ist eine Idee, eine Vorstellung – aber keine wirkliche, auffindbare, gegenständliche Einrichtung oder Entität. Denn, wenn man es sucht, ist es nicht aufzufinden. In Wirklichkeit gibt es so etwas gar nicht – es gibt nur „ichen“ oder „Ich-Denken„, also punktuelle oder blasenförmige Wahrnehmungs-Objekte, die sich aus einzelnen „Ich-Gedanken“ zusammen setzen. Beinahe jeder hält die Stimme(n) im Kopf, die mehr oder weniger unaufhörlich ertönt, für „ich„. Wenn dieser gedankliche Prozess endet, wird gesehen, dass das ein Wahn war.

Aber auch die Gedanken und anderen Wahrnehmungs-Objekte sind nicht dauerhaft, denn wenn sie gesucht werden, dann werden auch sie nicht gefunden. Warum nicht? Weil nie mehr als ein Gedanke oder Wahrnehmungs-Objekt gleichzeitig da ist (in der gleichen Millionstel Sekunde). Wenn sehr viele Wahrnehmungs-Objekte in kurzen Abständen aufpoppen, entsteht der Eindruck, dass da eine Kontinuität ist, ein „Seher„, der sie sieht.

Wenn diese einzelnen Wahrnehmungs-Objekte Gedanken sind, entsteht zudem der Eindruck eines „Denkers„, der sie denkt. Aber dieser Eindruck basiert nur darauf, dass der verblassende Vorgedanke von dem direkt anschließend erscheinendem Nachgedanken gewahrt wird. Da ist weder ein Denker, der die Gedanken denkt, noch ein Seher, der die Gedanken oder andere Wahrnehmungs-Objekte sieht.

Immer dann, wenn die Wahrnehmung an einem Phänomen klebt bzw. dort landet, entsteht der Eindruck von Kontinuität und „etwas„, das „da“ ist. Das kann auch nur eine Idee oder Vorstellung eines dauerhaften Hintergrundes oder einer Entität sein, welche die Wahrnehmung beeinflusst. Wenn dieses „Etwas“ aber gesucht wird, kann es nicht gefunden werden – weil in dem Moment der Suchvorgang da ist, der aber „etwas anderes sucht„, als sich selbst.

Der Suchvorgang ist im Wesentlichen eine gerichtete Aufmerksamkeit, die wie ein Suchscheinwerfer „etwas anderes“ sucht. Darum sagt man, dass das, was sucht, das Gesuchte ist. Aber auch dadurch entsteht im Gehirn die Vorstellung, dass da ja eine „Entität“ sein muss, etwas Dauerhaftes, das sucht und das muss doch gefunden werden können.

Das funktioniert deshalb nicht, weil der Suchvorgang keine dauerhafte Entität oder Einrichtung ist, sondern eine Serie von kurzen Aufmerksamkeits-Momenten, von denen jeder schon wieder am Abklingen ist, wenn er aufpoppt und bemerkt wird. „Das, was da ist„, ist immer schon wieder weg, wenn es bemerkt wird. Und das, was „etwas anderes sucht“ ist auch schon wieder weg, wenn es bemerkt wird. Darum wird immer nur „nichts“ gefunden – und dieses „Nichts“ ist die Antwort.

Allerdings ist es kein Nichts, in dem nichts enthalten ist, sondern dieses „Nichts“  ist die Nicht-Dinghaftigkeit (no-thing-ness) und Nicht-Dauerhaftigkeit unendlich vieler, ultrakurz aufpoppender Lichtblitze und Vibrationen. Die aufpoppenden Objekte er-scheinen buchstäblich, so als ob eine Taschenlampe für eine tausendstel Sekunde eingeschaltet wird und einen Lichtfleck an einer Wand projiziert. Der reale Lichtfleck ist schon wieder weg, während er vom Gehirn erkannt wird und in der Retina nachleuchtet, was den Eindruck von Dauerhaftigkeit vermittelt.

Es gibt aber keine Dauerhaftigkeit, sondern nur einzelne Informationen oder Gedanken und Wahrnehmungs-Objekte, die jeweils immer nur für eine sehr kurze Zeit er-scheinen und gleich wieder verschwinden. Dauerhaftigkeit oder Ewigkeit ist nur eine gedankliche Vorstellung.

Das Einzige, was dauerhaft genannt werden kann, ist die Kontinuität des Lebens-Prozesses, der sich in dem stakkatohaften Feuern einzelner Licht-Punkte ausdrückt, deren Anzahl derart groß ist, dass von einem Universums-Körper aus Lichtpunkten gesprochen werden kann. Faktisch ist das Einzige, was dauerhaft ist, die Nicht-Dauerhaftigkeit/Nicht-Beständigkeit und das Nicht-Vorhandensein des scheinbar Vorhandenen.

Es scheint so zu sein, als ob „ich“ mich dem Buddhismus annähere. Tatsächlich nähert aber die Kernlehre des Buddhismus, „anatta“ (Nicht-Selbst), sich „mir“ an, nämlich in der nackten Wahrnehmung dessen, was tatsächlich da ist – und der darauffolgenden Nachforschung, was denn das ist, was da gesehen wird. Anatta bedeutet: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein selbst.

Es ist immer noch ein Ich-Bin-Gefühl da – aber es wird immer deutlicher direkt gesehen, dass das nur ein Gefühl ist und selbst nur aus einzelnen Wahrnehmungs-Momenten besteht. Es gibt buchstäblich nichts Relatives, das von dem Feuern einzelner Lichtpunkte entfernt ist. Das Feuern und Selbstgewahren des Feuerns IST dynamisches Bewusst-Sein (Bewusst-Seins-Inhalt).

Mit anderen Worten – Bewusst-Sein  ist kein einheitliches „Feld„, wie ich es mir immer vorgestellt und auch (scheinbar) erlebt hatte, sondern ein punktuelles Phänomen einzelner Wahrnehmungs-Momente, das überall dort auftritt, wo ein Wahrnehmungs-Inhalt er-scheint. Bewusst-Sein (helles Licht) poppt punktuell aus einem „Nicht-Bewusst-Sein“ (dunkles Licht) bzw der Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung auf.

Jetzt darf nur nicht geschlossen werden, dass dieses dunkle „Nicht-Bewusst-Sein“ ein dauerhafter, entitätshafter Hintergrund ist, denn ansonsten hat man erneut ein gedankliches „Brahman“ oder „ParaBrahman“ erzeugt. Der Verstand kann im Normalzustand nicht damit umgehen, dass Leben nur ein punktuelles und momenthaftes Phänomen ist. Da entsteht sofort die Angst vor dem Untergang – die ja absolut berechtigt ist, denn Entstehung und Untergang gehen Hand in Hand, in der Zeitspanne einer tausendstel Sekunde und kürzer vor sich:

Relativ gesehen ist absolut gar nichts beständig „da“ – und auch nicht „dort“ oder gar „jenseits“. Das ist nur die Vorstellung eines relativen Ich’s, das sich daran klammert, wenigstens „im Jenseits“ oder „im Himmel“ sicher vorhanden zu sein, wenn schon nicht hier. Selbst die Vorstellung der „Hölle“ basiert auf dieser Angst: Lieber an einem absolut schrecklichen Ort vorhanden sein, als gar nicht vorhanden.

Leben bedeutet nicht, dass dauerhafte, belebte Subjekte und Objekte da sind. Leben bedeutet, dass in einem gigantischen Feuerwerk ungeheuer viele Lichtpunkte stakkatohaft, ungleichmäßig und unzusammenhängend aufblitzen. Die Summe dieser Lichtpunkte kann als „ein Körper“ aufgefasst werden.

Dieser Körper ist aber kein einzelnes „Ich„, sondern er besteht aus unendlich vielen lokalen Lichtpunkten, die momenthaft als „Bewusst-Seins-Inhalt“ aufblitzen und dann wieder in „Nicht-Bewusst-Seins-Inhalt“ versinken. Bewusst-Sein ist also ein binärer, lokaler Zustand: Nicht-Bewusst-Sein=ohne Inhalt und Bewusst-Sein=mit Inhalt.

Was sind dann die Subjekte, Objekte und Bewegungen, die dort erscheinen, was  allgemein „Kopf“ genannt wird? Phantasie-Objekte, die im Übersetzungsprozess des virtuellen „Gehirns“ entstehen, bestehend aus dem Muster der gerade aufblitzenden oder feuernden Lichtpunkte und dem, was das virtuelle Gehirn daraus macht, gemäß der lokalen Parametrisierung und Basis-Programmierung des lokalen, virtuellen Aggregat-Objektes (Körper und Psyche).

Jedes Objekt besteht aus einem Aggregat vieler verschiedener Lichtpunkte. Da ist eine Masse an Lichtpunkten und das virtuelle „Gehirn“, das Teil dieses Aggregates ist, erkennt sie als „Ich, der Körper„, „Ich, der Denker“ oder auch: „Ich, die Psyche„. Manche erkennen sich auch als „Ich, der Gott„. Richtig wäre: „aufblitzender Punkt“ oder DAS.

Wenn die Ich-Idee oder Ich-Vorstellung gründlich durchschaut wird, weil die tatsächlichen Bedingungen direkt gesehen werden und in der Folge den interpretierenden bzw. Geschichten-erzählenden „Ich-Gedanken“ der linken Hirnhälfte kein Glaube mehr geschenkt wird –  oder gar das Zwangsdenken ganz verschwindet – dann gibt es faktisch keine Probleme und kein Leiden mehr. Denn Probleme und Leiden sind nur bewertende Gedanken und davon ausgelöste Gefühle und Emotionen.

Kein Ich, kein Problem.
No Self, no Problem.