Das Konzept des freien Willens

Der Versuch glücklicher zu werden, mehr Elan zu haben, aktiver zu sein, bewusst zu kritisieren und  zu agieren – ist der Versuch eines Scheinwesens, „sein Leben“ so zu leben, wie es sich das vorstellt. Aber weder gibt es dieses Scheinwesen, noch hat es einen freien Willen. Sowohl der scheinbare Willensakt, als auch sämtliche Umstände, wie auch der Körper und die Person, sind nur Erscheinungen im leeren Bewusstsein.

Das leere Bewusstsein, frei von jeglichem Subjekt und Objekt ist, ist genau das, was jeder ist. Da die meisten Menschen das aber nicht fühlen können, verwechseln sie sich chronisch mit dem, was in ihnen als „ich“ erscheint. Daraus folgen sämtliche Probleme. Löst sich diese Vorstellung aber auf, gibt es kein Problem mehr, weil es niemanden mehr gibt, der ein Problem haben könnte. Der folgende Auszug aus dem Wei Wu Wei wird das sehr deutlich machen.

3 – Das Konzept des freien Willens

I

Der Ablauf des Lebens scheint auf der Vorstellung zu basieren, dass alles, was Lebewesen tun, einem Akt der Willensausübung zuzuschreiben ist, eben von Seiten eines jeden derartigen phänomenalen Objekts. Es ist jedoch ganz offensichtlich, dass Lebewesen eher reagieren als agieren und ihr Leben durch Instinkt, Gewohnheit, Mode und Propaganda bestimmt wird.

Ihre Art zu leben besteht in erster Linie aus einer Serie von Reflexen, und das lässt ihnen nur einen begrenzten Spielraum für bewusstes und überlegtes Handeln; das heißt zweckvolles Handeln, das bei oberflächlicher Betrachtung so aussehen könnte, als wäre es das Ergebnis eines Wollens oder eines sogenannten Willensaktes.

Dennoch ist der Wille lediglich ein gedankliches Konzept, denn soviel wir auch suchen mögen, wir können kein Wesen finden, das ihn ausüben könnte. Alles, was wir finden können, ist ein Impuls, in dem scheinbar die Vorstellung eines „Ich“ zum Ausdruck kommt. Es wäre wohl unberechtigt anzunehmen, dass ein derartiger Impuls in der Lage wäre, die unerbittliche Kausalkette oder den Vorgang der Manifestation scheinbarer Ereignisse zu beeinflussen, wenn er selbst kein Element in einem dieser Ablaufe wäre.

II

Der Wille wäre demnach eine illusionäres Konzept, lediglich die Demonstration einer aktivierten Ich-Vorstellung, mit der diese sich selbst beweist. Das führt entweder zu Enttäuschung oder zu Erfüllung und wird dadurch zur Quelle des Karma. Wie schon oft von Philosophen und Metaphysikern festgestellt, werden Lebewesen als solche gänzlich „gelebt„; als Phänomene von Psyche und Soma sind sie unausweichlich der Kausalität unterworfen. Wie der Buddha im Diamant-Sutra immer wieder betont hat, existieren Lebewesen an sich nicht als unabhängige Entitäten. Das ist auch der Grund, warum sie, da sie als Phänomene“ nicht sind, aus noumenaler Sicht dennoch als Noumenon“ sind – auch wenn sie als Entitäten oder irgend etwas Objektives nicht sein können.
Noumenon, per Definition gänzlich leer von irgendeiner Spur von Objektivität, ist nicht, kann überhaupt nicht sein, denn alle Formen des Seins müssen objektiv sein. An dieser Stelle versagt die Sprache und muss wie ein Floß, das uns über den Fluss getragen hat, zurückgelassen werden. Was wir sagen können, wäre vielleicht: „Das, was alle fühlenden Wesen sind, ist selbst nicht.
Wenn das nicht verstanden wird, wird es unbefriedigend erscheinen; wenn es aber verstanden wird, wird es erleuchtend und erhellend sein, aus dem einfachen Grund, weil das Verstehen „selbst“ dieses Noumenon ist, das wir sind.
Aber hier ist die ewige Mahnung notwendig: Phänomene, die wir – wie dieser Begriff aussagt – zu sein scheinen, sind nichts als Noumenon; und Noumenon als alles, was wir sind, ist als Phänomene (als seine Erscheinung), auch wenn es an sich nicht ist.
Deshalb ist der Wille noumenal, obwohl er nicht existiert – nur eine phänomenale Erscheinung ist; er kann als Objektivierung der Noumenalität betrachtet werden. Als solchen kennen wir ihn als den Buddha-Geist oder prajna, als intuitive Einsicht, und in dieser Erkenntnis ist er wir selbst; alles, was wir sind, was wir (in dieser Erkenntnis) erkennen; denn dies, was wir sind, ist dieses Erkennen.
Offensichtlich alles ganz einfach, solange du nicht versuchst, es objektiv in Worten auszudrücken.

III

Vielleicht lässt sich die Frage des Willens am besten verstehen, indem wir einfach fragen, wen es da gibt, der Willen ausüben sollte, und wen es da gibt, der die Auswirkungen dieses Willens erfahren sollte.
Phänomenal gesehen gibt es eine scheinbare Ursache, die man als Ego-Willen bezeichnen könnte, und eine psychische Wirkung, die sich als Erfüllung oder als Enttäuschung zeigen kann.
Die Wirkung eines bedingten „Willens“ ist das Ergebnis von Ursachen, in deren Kette dieser Wille eine mittelbare Wirkung-Ursache ist, und ein scheinbares System von Psyche und Soma erfährt jene Wirkung.
Was jenen „‚Willen“ angeht, der Nicht-Willen (wu-wei oder bodhi,) ist, so ist seine letztendliche Wirkung Integration.

Damit es einerseits Willen und andererseits dessen Auswirkung geben könnte, müsste es ein Wesen geben, das den einen ausüben und das andere erleiden müsste. Wenn es sich herausstellt, dass es keine derartigen Wesen gibt, dann kann so ein Ding wie Wille nur als Vorstellung existieren.
Noumenal gesehen gibt es keinen Willen – weil es kein Ich gibt.
Phänomenal gesehen ist allein Spontaneität nicht vom Willen bestimmt.
Indem wir verstehen, was der Wille nicht ist, finden wir vielleicht den Weg zu jener Offenheit, wodurch der „Wille“ – der Nicht-Wille ist – uns Scheinobjekte befreien kann, von der Identifizierung mit uns als Objekt, das wir nie gewesen sind, nicht sind und niemals sein werden.

IV

Nicht-willentliches Leben ist ein Widerspruch in sich (sofern es nicht „gelebt werden“ bedeutet).
Als Folge dieser Einsicht nicht auf Ereignisse zu reagieren, bedeutet, nicht-willentlich zu leben (oder „gelebt zu werden“).
So gesehen ist intellektuelles Verstehen bedingt [i.O.: „conditioned cause“], und intuitive Einsicht könnte als direkt, unmittelbar [i.O.: „non-mediate cause“] betrachtet werden.
Denn Ursache und Wirkung sind in der Zeit getrennt, aber in der Zeitlosigkeit sind sie eins.

4 – Einfach gesagt

I

Nur ein Objekt kann leiden, aber phänomenal gesehen rotieren Subjekt und Objekt als ein Ganzes – wie eine Münze, so dass die Intervalle zwischen Wappen und Zahl nicht wahrnehmbar sind. Folglich scheinen Schmerz oder Freude dauerhaft zu sein.

Im Gegensatz dazu gibt es noumenal gesehen kein Objekt, das Schmerz oder Freude empfinden könnte. Noumenon ist unverletzlich, und das kann auch gar nicht anders sein. Noumenon ist der unmanifestierte Aspekt dessen, was wir, als Lebewesen, sind; Phänomenon ist unsere Manifestation.
Deshalb müssen wir in manifestierter Form Schmerz und Freude empfinden; in unmanifestierter Form können wir weder das eine noch das andere erfahren. Manifestation und Nicht-Manifestation sind dauerhaft und parallel, die eine der Zeit unterworfen (die alle Manifestation begleitet und die Ausdehnung von Geschehnissen wahrnehmbar macht), die andere zeitlos.
Noumenon – zeitloses, raumloses, nicht-wahrnehmbares Sein – ist das, was wir sind; Phänomene – zeitlich, begrenzt, sinnlich wahrnehmbar – sind das, was wir als vereinzelte Objekte zu sein scheinen. Phänomene, der Zeit unterworfen, sind flüchtige Phantasien im Bewusstsein, aber sie sind nichts anderes als Noumenon in manifestierter Form, in einem Traumkontext – einem von mehreren Traumkontexten, das heißt psychischen Zuständen, verursacht durch Schlaf, Drogen, Sauerstoffmangel und so weiter. Gleichermaßen ist auch Noumenon nichts: faktisch, demonstrierbar, erkennbar (und daher objektiv) ist da nichts – das ist: kein Ding, außer oder getrennt von seiner Manifestation als Phänomen.

Das ist der Sinn der „geheimnisvollen“ Widersprüche, die von den Weisen geäußert wurden: „Form ist nichts anderes als Leerheit“, „Leerheit ist nichts anderes als Form, „Samsara ist Nirvana„, „Nirvana ist Samsara„, „Phänomene und Noumenon sind eins“, und so weiter…

Deshalb kann auch Huang-po im Bericht des Wan-ling sagen: 2


Macht auf keinen Fall einen Unterschied zwischen dem Absoluten und der Welt der lebenden Wesen.
„Die Menschen vernachlässigen die Wirklichkeit der ‚illusionären‘ Welt.“
„Was immer der Geist ist, das sind auch die Erscheinungen – beide sind in gleicher Weise wirklich und haben gleichermaßen teil an der Dharma-Natur, die in der Leere hängt. Wer diese Wahrheit intuitiv erfasst hat, ist ein Buddha geworden und hat den Dharma vollendet.“
Das ganze sichtbare Weltall ist Buddha.“ (S. 82)

Im gleichen Zusammenhang zitiert er auch den berühmten Vers von Hui-nêng: „Nie hat es ein einziges Ding je gegeben, Ein flüchtiges Staubkorn, woran könnt‘ es kleben?“ (S. 84)

„Erst muss dies vollkommen verstanden werden, ehe der Weg betreten werden kann.“ (S. 84)
„Behaltet endlich im Gedächtnis, dass vom Anfang bis zum Ende auch nicht das kleinste Körnchen von irgend etwas Wahrnehmbarem jemals existiert hat, oder jemals existieren wird.“ (S. 96)
Und schließlich: „Siehst du ein Ding, dann siehst du alle.“ (Das heißt, alles Wahrnehmen ist Buddha-Geist, der Traum des Lebens ist selbst Buddha-Geist.) (S. 75)
Halte an einer Grundursache fest, dann sind alle anderen identisch.“ (S. 82)

Was aber ist dieses eine Prinzip?
„Noch einmal: Im Grund sind alle Erscheinungen ohne Existenz, wenn du auch nicht behaupten kannst, sie seien nicht-existierend … Überdies: Geist ist nicht Geist. Denn was auch immer mit diesem Ausdruck bezeichnet wird, ist weit entfernt von der Wirklichkeit, deren Symbol er ist. Auch Form ist nicht wirklich Form. Wenn ich nun behaupte, dass es keine Erscheinungen und keinen ursprünglichen Geist gibt, dann werdet ihr anfangen, etwas vom intuitiven Dharma zu verstehen, der schweigend dem Geist durch den Geist übertragen wurde. Da Erscheinungen und Nicht-Erscheinungen eins sind, gibt es weder Erscheinungen noch Nicht-Erscheinungen, und die einzige mögliche Übermittlung ist vom Geist zum Geist.“ (S. 81)

„In die Gesamtheit der Erscheinungen versunken, versenkst du dich in die Ganzheit des GEISTES. Alle diese Erscheinungen sind im Innersten leer, und doch ist der GEIST, mit dem sie identisch sind, nicht reines Nichts.“ (S. 82)

Der 37. Abschnitt im Bericht des Wan-ling ist wahrscheinlich die klarste und trefflichste Formulierung der höchsten Wahrheit, die wir besitzen. Hier stellt Huang-po (wie bereits zitiert) fest, dass „wir alle Dinge sehen, wenn wir ein Ding sehen,“. Was ist dieses Eine Ding, und haben wir es gesehen? Damit ist gewiss gemeint, dass Phänomen und Noumenon eins sind. Wenn wir zwischen Erscheinung und ihrer Quelle (die beide nur begrifflich existieren) unterscheiden, dürfen wir dieses „eine Ding“ (nämlich, dass sie eins sind) nie vergessen. Wenn wir jedoch dieses eine Ding als „eines“ sehen, haben wir es nicht gesehen, sondern verfehlt. Es ist nicht ein „Ding“, denn ein Ding wäre ein Objekt. In Wirklichkeit können wir es niemals „sehen“, denn dieses Sehen ist das Nicht-Sehen, bei welchem nicht „Einer“ sieht und kein „Ding“ als solches gesehen wird.
Haben wir verstanden? Können wir intuitiv erfassen, was dies sein muss? Das Auge kann sich nicht sehen. Das, was gesucht wird, ist der Sucher, der kein Objekt ist. „Eines“ ist eine Vorstellung und deshalb objektiv, ES – unsere ursprüngliche Natur – ist „in Wahrheit ohne das geringste Teilchen von Gegenständlichkeit“. (Huang-po, S. 32)
Wir können es nicht sehen (finden, packen, erreichen, berühren), weil „wir“ auf keinen Fall Objekte sind, so wie auch ES kein Objekt ist. Und was immer „wir“, noumenal sind, ist eben das, was ES noumenal ist. Daher sind wir eins – und im Noumenon gibt es kein Objekt wie „eins“, da es (wie wir gerade festgestellt haben) ebenfalls kein solches Ding (Objekt) wie „Noumenon“ gibt.
Dies ist das Nicht-Sehen, durch das du ALLES siehst; das eine Prinzip, mit dem alle anderen identisch sind; das eine Problem, das bei seiner Lösung sofort alle anderen Probleme löst; das Zentrum aller Zentren (leeres Bewusstsein), von dem aus alles erkannt werden kann.

II

Phänomenale Objekte sind Manifestationen des Noumenon und damit nichts anderes als Noumenon. Sie sind imstande, das zu erkennen und es mit Hilfe ihres phänomenalen psychischen Mechanismus namens „Intelligenz“ umzusetzen, doch sie können Noumenon nicht in ihrer individuellen, raumzeitlichen, begrifflichen Existenz, die dem zeitgebundenen und illusorischen Prozess der Kausalität unterworfen ist, „leben„. Obwohl Noumenon alles ist, was sie sind – und trotz der Tatsache, dass es folglich darin nichts zu erreichen, zu erfassen oder zu besitzen gibt -, müssen sie sich „ent-phänomenalisieren“, sich „ent-objektivieren“ und ihre Subjektivität von ihrer projizierten Selbstheit, die von der Vorstellung eines Ich beherrscht wird, „ent-identifizieren“. Denn nur so können sie es in irgendeiner Weise „leben“, jenseits eines bloß intellektuellen Verständnisses dessen, was es ist – was sie sind.

Dieser „Kurskorrektur“ hat man viele Namen gegeben, aber sie ist dennoch kein Ereignis oder keine Erfahrung – denn außer als Erscheinung gibt es kein Objekt, dem so etwas widerfahren könnte. Es ist eine Metanoesis, bei der man entdeckt, dass erfundene Bindungen oder Identifizierungen weder existiert haben noch jemals existieren – eben weil es sich um Erfindungen handelt. Diese Metanoesis beinhaltet eine Verschiebung der Subjektivität vom scheinbaren Objekt zum letztendlichen Subjekt, vom Phänomen zum Noumenon, von der illusorischen Peripherie zur illusorischen Mitte (denn Unendlichkeit kann keine Mitte haben), vom angenommenen Individuum zum universalen Absoluten.
Dies ist das Erwachen aus dem individuellen Traum des „Lebens“ (eingeschränkt durch die Begrenzungen von sinnlicher Wahrnehmung und hypothetischem „Willen„) zu der unpersönlichen Grenzenlosigkeit des Absoluten, in der man entdeckt, dass jedes erdenkliche Problem des phänomenalen „Lebens“ spurlos verschwunden ist.  [Quelle]