Leben ist ein anderes Wort für Leiden

Diese Überschrift polarisiert zwangsläufig – aber sie ist dennoch korrekt. Warum? Weil das Leben auf diesem Planeten nur deshalb existiert, damit Einzelne ihr wahres Potential entdecken und entfalten. Aber damit die Wenigen das auch tun, hat das Leben eine Peitsche eingerichtet, die Leiden genannt wird. Diese Peitsche schlägt immer dann zu, wenn ein Mensch, der dazu bestimmt ist, nach innen zu gehen, den nächsten Schritt tun soll – ihn aber wissentlich oder unwissentlich nicht tut.

Es ist mir vollkommen bewusst, wie das auf manche Menschen wirken wird: sie werden ihr persönliches Leiden als etwas Besonderes ansehen, sie mussten so furchtbar leiden – andere viel weniger. Der Vater hat sie geschlagen oder vergewaltigt und die Mutter hat zum Vater gehalten – da kann es unmöglich sein, dass dieses Leiden einen Grund hat, der überhaupt nichts mit den Peinigern zu tun hat – sondern mit dem gequälten Menschen selbst und seiner inneren Entwicklung.

Bei einem Klassentreffen erkannte ich, dass alle Klassenkameraden, die als Kind und Jugendlicher nicht leiden mussten und gut beim anderen Geschlecht ankamen, in späteren Jahren dafür umso mehr leiden mussten, sehr krank wurden oder von ihrem Partner geschlagen oder verlassen wurden. Dagegen waren jene, die als Kind stets abseits standen und daran litten, gestärkt aus der Kindheit hervorgegangen und standen mit beiden Beinen und gesund im Leben.

Da die Anzahl Menschen, an denen ich das feststellen konnte, recht klein ist, kann das sicherlich nicht als Referenz für alle gelten. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es sich hier um eine Gesetzmäßigkeit handelt, die darauf beruht, dass das menschliche Ego im Laufe der Zeit immer mächtiger wird, wenn es nicht schon in der Kindheit immer wieder kräftig gedemütigt und geschwächt wird. Zwar ist ein starkes Ego notwendig, um die innere Arbeit auf sich zu nehmen – aber die Stärke, die hier benötigt wird, ist von anderer Art, als die Stärke, die ein nicht gedemütigtes Ego aufweist.

Ein gedemütigtes Ego weiß aus leidvoller Erfahrung, dass es nicht allmächtig ist, dass jederzeit irgend ein Unglück auftreten kann, dass sich plötzlich die Hölle auftun kann, um es zu verschlingen. Ein nicht gedemütigtes Ego weiß das nicht, geht davon aus, dass es alles tun kann, dass ihm alles gelingt und nichts und niemand existiert, das ihm Paroli bieten kann. Um die innere Arbeit zu wollen und zu tun, braucht es definitiv ein gedemütigtes Ego, das am Leiden in die richtige Richtung gewachsen ist. Ein Ego im Allmächtigkeitswahn ist absolut nicht dazu geeignet.

Man kann das aber nur dann erkennen, wenn man von seinem Lebens- und Leidensweg zurück tritt und aus der inneren Position her schaut. Erst dann erkennt man, was die wirkliche Realität ist und was nicht. Das Leben und das Leiden ist notwendig, um starke und unabhängige Menschen zu erzeugen, die bereit sind, der Masse den Rücken zu kehren und den Weg nach innen anzutreten. Ohne Leiden würde niemals ein Mensch nach innen gehen – die Ablenkungen und Schönheiten des Massenlebens – der Sirenengesang – ist so vielfältig und betörend, dass sich kaum jemals einer davon befreien könnte, wenn ihn die Peitsche nicht dahin treiben würde.

Es tat immer sehr weh, wenn die Peitsche zugeschlagen hat und es hat mehr als 55 Jahre gedauert, bis ich erkannte, dass ich selbst diese Peitsche bin und dass die Schläge notwendig waren, um in mir zu bewirken, mehr nach innen, als nach außen zu schauen. Nun weiß ich, dass jeder Mensch sein eigenes Leben ist und auch das Leiden, die Peitsche und die Peiniger – denn in dem Universum, das er ist, gibt es nur ihn selbst – alles andere sind nur seine eigenen Projektionen. Mit anderen Worten: Jedes einzelne Lebewesen ist so etwas wie ein abgeschlossenes Mikrouniversum – und alles, was darin passiert, geschieht durch das Lebewesen selbst und zu seinem Besten.