Dualität ist die Voraussetzung für Bewusst-Sein

Es ist jetzt 4:52 und ich kann seit Stunden nicht schlafen. Und oft sind diese Stunden die Produktivsten, was Selbsterkenntnis betrifft. Da, wo ich wohne, ist es nachts immer extrem ruhig, nicht ein einziges Geräusch ist zu hören und da auch nichts zu sehen ist, lenkt mich nichts von mir selbst ab. In diesem Zustand ergeben sich dann ganz von alleine oft recht tiefe Einsichten über die Struktur des Seins – des Bewusst-Seins.

Zum Beispiel kam gerade hoch, dass ein eindimensionaler Punkt, der keine Möglichkeit hat, sich von außerhalb seiner selbst zu betachten, niemals Erkenntnis von sich selbst erlangen kann. Er wird solange über sich selbst im Unklaren bleiben, bis es ihm gelingt, aus seinem eigenen Sein heraus eine Art „Spiegel auszuklappen“, mit dem er sich selbst anschauen kann. Dieser Spiegel ist die erste, grundlegende Dualität, die notwendig ist, um sich selbst zu sehen.

Geben wir ein Beispiel zur Illustration: Man stelle sich vor, man wäre eines seiner Augen und es gäbe kein Licht. Wie soll dieses Auge wissen, was es ist und was seine Funktion ist, ohne das Vorhandensein von Licht, das die unbedingte Voraussetzung dafür ist, dass dieses Auge sehen kann? In diesem Fall ist das Licht das notwendige Medium, damit das Auge seine Funktion erfüllen kann: nämlich zu sehen. Das Licht ist eine zusätzliche Dimension, ein Zweites (Dualität), das hinzu kommen muss, um zu wissen. Aber ohne ein zusätzliches Objekt kann das Auge immer noch nichts sehen. Zwar ist nun Licht da, aber es fehlt etwas, das gesehen werden kann. Was ist, wenn es nichts anderes gibt, als das Auge selbst? Dann muss das Auge das nun vorhandene Licht benutzen und sich selbst Objekte projizieren, die es anschauen kann.

Das Wort Wissen ist einer der beiden Quellen des zusammengesetzten Wortes Bewusst-Sein. Bewusst-Sein ist Wissen vom eigenen Sein. Dieses Wissen kann nur dann entstehen, wenn Dualität vorhanden ist, denn ich muss mich (geistig) von dem Ort entfernen, an dem ich bin, muss einen Referenzpunkt erschaffen, von dem aus ich erkennen kann, wo ich bin, was ich bin und wie ich bin. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich mich tatsächlich von mir selbst entfernen muss – schon gar nicht, wenn es sich um das einzig Existente handelt, das sich unmöglich von sich selbst entfernen kann.

Dieser Referenzpunkt ist so etwas, wie eine interne, virtuelle Instanz, eine scheinbare Entfernung zu sich selbst. Man kann sich das auch vorstellen, wie eine Art „geistigen Spiegel“, der aus dem eigentlichen Sein ausgeklappt oder ausgestülpt wird, um sich darin betrachten. Ganz ähnlich dem Schminkspiegel, den Frauen in die Hand nehmen, um ihr Makeup zu überprüfen.

Genau hier haben wir die Grundlage von Selbsterkenntnis, denn jedes einzelne Lebewesen ist ein solcher geistiger Spiegel, mit dem das Sein sich seiner selbst bewusst wird und in dem es sich betrachtet. Gleichzeitig muss sich aber auch jedes einzelne dieser Lebewesen seines eigenen Seins bewusst werden, um das individuelle Sein des Spiegels zu erwecken und zu festigen.

Das wird sich für die meisten Menschen völlig verrückt anhören, weil sie sich selbst die meiste Zeit ihres Lebens als festen Körper erfahren – aber das ist eine Täuschung. Ich erfahre mich mittlerweile oft als ein Netzwerk von statischen, geistig-energetischen Punkten, welche eine Art Projektor oder Spiegel bilden, von dem aus meine individuelle Ansicht des von mir erfahrenen Universums projiziert wird. Diese Punkte sind statisch, weil sie unbeweglich sind – aber gleichzeitig sind sie auch dynamisch, weil sie stetig weiter entwickelt werden können.

Dieser Spiegel oder Projektor ist völlig unabhängig von dem projizierten Universum und ist tatsächlich völlig unbewegt und statisch. Das einzige, das sich bewegt sind die projizierten Bilder und die Gedanken, Gefühle und Emotionen, die sich auf diese Bilder beziehen. Aber ich erkenne auch, dass diese Bilder unbedingt notwendig sind, damit ich das, was ich tatsächlich bin, in allen Facetten erfahren kann. Damit meine ich nicht, dass ich die bewegten Bilder bis zum Erbrechen genieße – sondern sie als das erkenne, was sie sind und mein Augenmerk zunehmend auf meine eigene, geistig-energetische Struktur (den Spiegel) lege.

Die Welt hat mehrere Funktionen. Zum Einen dient sie dazu, das anfangs nur rudimentäre Bewusstsein meiner selbst zu entwickeln – und zwar soweit, bis Selbsterkenntnis beginnen kann. Eine andere Funktion ist die einer notwendigen Ablenkung, die aufgebaut wird, um die Ernsthaftigkeit des Willen zur Selbsterkenntnis in mir selbst zu erschaffen und zu testen. Kann ich den Blick auf mir selbst lassen, auch dann, wenn eine „hübsche Elfe vorbeischwebt“ oder ein Projekt erfolgreich beendet wird? Kann ich bei mir bleiben, trotz aller wunderbaren oder schrecklichen Ablenkungen, die gerade im Welt-Spiegel erscheinen?

Schaue ich in den Spiegel und halte die Bilder für das Echte und beschäftige mich überwiegend damit oder schaue ich auf mich selbst, auf den Spiegel selbst? Das ist die Frage, der Prüfstein, um den sich alles dreht. Das Sein muss sich selbst als den Spiegel erkennen, muss erkennen, dass es selbst der Spiegel ist und nicht die Lichtreflexe im Spiegel. Solange der Spiegel von den Lichtreflexen abglenkt wird, schaut er nicht auf sich selbst. Und solange er nicht auf sich selbst schaut, ist er nicht reif zur Erweckung und Entwicklung seiner eigenen, universellen Individualität und Identität.

Mein Fehler war, dass ich glaubte, anderen helfen zu können, auf sich selbst zu schauen. Das ist aber ebenfalls nichts anderes, als auf die Reflexe im Spiegel hereinzufallen, denn ich bin der statische Spiegel und habe mit den darin erscheinenden Lichtreflexen nicht wirklich etwas zu tun.

Manchmal muss man sich erst alle Zähne ausschlagen, um zu erkennen, dass es nützlich war, ein Gebiss zu haben…

Nachtrag: es gibt eine Person, die einmal zu mir sagte, dass sie nicht für sich selbst auf dieser Welt sei. Schon damals wusste ich instinktiv sehr sicher, dass dies falsch ist. Heute weiß ich hundertprozentig sicher, dass wir nur für einen einzigen Zweck auf dieser Welt sind: um uns selbst innerlich weiter zu entwickeln. Und zwar nicht in Bezug auf diese Welt, sondern ausschließlich in Bezug auf unser inneres Wesen.

Die Welt ist dabei der notwendige Rahmen, der für diese innere Entwicklung benötigt wird – mehr nicht. Wer sich daher in idealistischer Weise der scheinbaren Probleme dieser Welt annimmt, geht damit vollkommen an seinem eigentlichen Zweck vorbei. Ramana Maharshi wusste das, Paul Brunton, zum Beispiel, wusste das nicht.

Aber das ist nicht schlimm, weil es immer wieder Menschen geben wird, die klar zwischen der Welt und ihrem wahren Sein unterscheiden können und damit automatisch den richtigen Weg einschlagen. Das sind zwar immer nur ganz wenige – aber offenbar reicht diese geringe Anzahl aus. Die vielen anderen Wesen, die das nicht tun, bilden dabei die Kulisse für die innere Entwicklung der Wenigen.