Das Schweigen des Mentals

Die erste Stufe in Sri Aurobindos Yoga, die gleichzeitig den Schlüssel für eine ganze Reihe von Verwirklichungen bildet, ist mentales Schweigen. Warum aber den Verstand still werden lassen, mag man fragen? Dabei ist es einleuchtend, daß man, um eine neue Welt in sich entdecken zu können, erst die alte hinter sich lassen muß – alles hängt von der Entschiedenheit ab, mit der man diesen ersten Schritt wagt.

Es kann einen wie ein Blitz treffen, etwas in einem, das aufschreit: „Genug der Mühle!“ Damit hat man ein für allemal den Anfang gefunden und macht sich auf, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Andere sagen Ja-Nein und schwanken endlos unschlüssig zwischen beiden Welten hin und her.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, es handelt sich hier nicht darum, ein mühsam erarbeitetes Gut sinnlos wieder von sich zu werfen im Namen von was weiß ich für einer Friede-Freude-Weisheits-Glückseligkeit (es geht auch nicht darum, mit hehren, hohlen Worten um sich zu werfen); wir sind nicht auf der Suche nach Heiligkeit, sondern auf der Suche nach Jugend – der ewigen Jugend sich beständig entwickelnder Wesen – es geht uns nicht um ein minderes Dasein, sondern um ein besseres Dasein, vor allem um ein weiterreichendes und umfassenderes: Ist euch noch nicht aufgefallen, daß sie, wenn sie wirklich nach etwas Kaltem, Finsteren und Schwermütigen als höchstem Gut suchten, dann nicht Weise wären sondern Esel?, bemerkte Sri Aurobindo einmal mit einem Augenzwinkern.

In der Tat macht man die verschiedensten überraschenden Entdeckungen, sobald die mentale Mechanik einmal stillsteht. Als erstes stellt man fest, daß wenn die Fähigkeit zu denken eine bemerkenswerte Gabe ist, die Fähigkeit, nicht zu denken, eine umso größere ist; jeder nach anderem Strebende möge es nur einige Minuten versuchen, und er wird schnell merken, an welchem Holz er sich erwärmt. Er wird feststellen, daß er bis dahin einem trügerischen Spektakel anheimgefallen ist, einem erschöpfenden, aber niemals erschöpften Tumult, in dem nichts Platz hat als seine Gedanken, seine Gefühle, seine Triebe, seine verschiedenen Anwandlungen und Reaktionen – er und ständig nur er, dieser aufgeblasene Gnom, der sich in alles einmischt, alles verschleiert, der nichts versteht als sich selbst, nichts sieht und kennt als sich selbst (wenn überhaupt), dessen ewiggleiche Geschichten die Illusion des Neuen nur deshalb vorspiegeln können, weil sie sich untereinander abwechseln.

In einem gewissen Sinne sind wir nichts anderes als eine Masse komplexer mentaler, nervlicher und physischer Gewohnheiten, die durch einige herausragende Leitgedanken, Sehnsüchte und Assoziationen zusammengehalten werden – ein Amalgam vieler kleiner, sich wiederholender Kräfte mit einigen wenigen ausschlaggebenden Grundschwingungen.3 Vom achtzehnten Lebensjahr an also, könnte man sagen, sind wir auf einen feststehenden Satz von Grundschwingungen fixiert. Danach werden die Ablagerungen dieses ewiggleichen Satzes sich mit tausend verschiedenen Gesichtern – die wir Kultur nennen, oder „uns selbst“ – in endlosen Runden um jenes Grundgefüge gruppieren, in immer dichter schließenden, mehr und mehr polierten und verfeinerten Schichten.

Wir sind in einer Struktur gefangen – ob aus Blei und ohne jegliches Oberlicht oder hochaufgeschossen wie ein Minarett, so sind wir doch, wie auch immer aufgeregt darin kreisend und schwirrend, nichtsdestoweniger gefangen: Menschen also, in einer Haut aus Granit oder eingeschlossen in ein gläsernes Standbild. Die erste Aufgabe im Yoga ist es, frei zu atmen. Das bedeutet konkret, diese Blende des Mentals, das Netz des Denkens, das nichts passieren läßt als eine bestimmte Art der Schwingung, zu zerreißen, um die regenbogenfarbene Unendlichkeit der Schwingungen zu entdecken, das heißt, schließlich die Welt und die Menschen so, wie sie wirklich sind, und auch ein anderes „Selbst“, dessen Wert weit über die Einschätzungen des Verstandes hinausreicht.

Aurobindo [Quelle]

Aurobindo: Integraler Yoga (II)

Aurobindo: Briefe über den Yoga