Das Selbst

8. September 1936, Talk 245 — aus dem Buch: Gespräche mit Ramana Maharshi

Gulbai und Shirinbai Byramjee, zwei parsische Damen, stellten mehrere Fragen, die alle das gleiche Thema hatten.

F: »Ich verstehe, dass das Selbst das Ego überschreitet, aber mein Verständnis ist nur theoretisch und nicht praktisch. Wie kann ich das Selbst praktisch verwirklichen?«

M.: »Verwirklichung ist nichts, was man neu erlangen müsste. Sie ist bereits da. Man muss nur den Gedanken, nicht verwirklicht zu haben, loswerden.«

F.: »Dann braucht man es gar nicht zu versuchen?«

M.: »Nein. Geistesstille und Friede sind die Verwirklichung. Es gibt keinen Augenblick, in dem das Selbst nicht existiert. Solange man zweifelt oder das Gefühl hat, nicht verwirklicht zu haben, muss man versuchen, diese Gedanken loszuwerden. Die Gedanken entstehen aufgrund der Identifikation des Selbst mit dem Nicht-Selbst. Wenn das Nicht-Selbst verschwindet, dann bleibt allein das Selbst übrig. Um irgendwo Platz zu schaffen, genügt es, wenn man die Dinge wegräumt. Es ist nicht nötig, neuen Raum hinzuzufügen. Selbst wenn es eng ist, ist Raum da. Die Abwesenheit von Gedanken bedeutet keine Leere. Es muss ja einen geben, der die Leere erkennt. Wissen und Nichtwissen gehören dem Geist an. Sie sind aus der Zweiheit geboren. Aber das Selbst ist jenseits von Wissen und Nichtwissen. Es ist Licht. Man braucht das Selbst nicht mit einem anderen Selbst zu erkennen. Es gibt keine zwei Selbste. Was nicht das Selbst ist, ist das Nicht-Selbst. Das Nicht-Selbst kann das Selbst nicht erkennen. Das Selbst hört und sieht nicht (physisch). Es befindet sich jenseits von alledem – es ist das einzige und reine Bewusstsein.

Eine Frau, die eine Kette um ihren Hals trägt, glaubt, sie verloren zu haben, und geht auf die Suche nach ihr, bis eine Freundin sie auf ihren Irrtum aufmerksam macht. Sie hat das Gefühl des Verlustes. Ihre Angst der Suche und ihre Freude der Entdeckung sind selbst geschaffen. Ähnlich verhält es sich mit dem Selbst. Es ist die ganze Zeit da, ob du es nun suchst oder nicht. Und wie die Frau es so empfindet, als habe sie die verlorene Halskette wiedergefunden, so enthüllt die Beseitigung der Unwissenheit und der falschen Identifikation das Selbst, das immer, hier und jetzt, da ist. Das nennt man Verwirklichung. Sie ist nichts Neues. Sie besteht in der Beseitigung der Unwissenheit und in nichts weiter. Bei der Suche nach dem Geist kann es zu einer Gedankenleere kommen. Der Geist (Mind,Verstand) muss mit Stumpf und Stiel ausgerissen werden. Finde heraus, wer der Denker, der Sucher ist. Bleibe der Denker, der Sucher, dann verschwinden alle Gedanken.«

F.: »Dann bleibt das Ich, der Denker, übrig.«

M.: »Dieses Ich ist das reine Ich, frei von Gedanken. Es ist mit dem Selbst identisch. Solange die falsche Identifizierung besteht, gibt es auch Zweifel. Fragen tauchen auf und nehmen kein Ende. Die Zweifel hören erst dann auf, wenn das Nicht-Selbst verschwunden ist. Das führt zur Selbstverwirklichung. Dann bleibt kein anderer übrig, der zweifelt oder fragt. All diese Zweifel können nur in einem selbst gelöst werden. Mit Argumenten kann man sie nicht befriedigen. Halte den Denker fest! Nur wenn man den Denker nicht festhält, erscheinen Objekte außen oder Zweifel im Geist.«
[…]
F.: »Für wen sind dann all die heiligen Schriften gedacht? Sie können nicht für das wirkliche Ich bestimmt sein, sondern für das unwirkliche Ich. Das wirkliche Ich braucht sie nicht. Es ist seltsam, dass das unwirkliche Ich so viele heilige Schriften braucht.«

M.: »Genau. Der Tod ist nur ein Gedanke und nichts weiter. Wer denkt, schafft Probleme. Lass den Denker uns erzählen, was mit ihm im Tod geschieht. Das wahre Ich schweigt. Man sollte nicht denken: ›Ich bin das und nicht jenes.‹ ›Dies‹ oder ›das‹ zu sagen ist falsch. Es bedeutet Begrenzung. Nur ›ich bin‹ ist die Wahrheit. Schweigen ist ›ich‹. Wenn der eine sich für ›dies‹ und der andere für ›das‹ hält, prallen die Meinungen aufeinander, und so viele Religionen entstehen. Die Wahrheit bleibt, wie sie ist, und wird durch keine Standpunkte und gegensätzliche Meinungen beeinträchtigt (=Unbewegtheit).«


Quelle: Gespräche mit Ramana Maharshi

Hinweis:
Nicht-Selbst ist der sich bewegende Verstand, der die Illusion erzeugt, eine Person in Raum und Zeit zu sein.
Selbst ist: Das Eine Bewusstsein, Stille, Frieden, Unbeweglichkeit, Unendlichkeit.

Und da es nur ein Selbst gibt – bleibt es automatisch übrig, wenn der Verstand schweigt, bzw. tot ist. Natürlich ist es auch vorher schon da, es kann niemals abwesend sein – aber es wird nicht erkannt, wenn der Verstand schreit und sich bewegt. Genauso, wie ein kleiner Vogel, der leise zwitschernd auf dem Dach sitzt. Solange auf der Straße eine lautstarke Geräuschquelle, wie zB ein Presslufthammer (PH), aktiv ist, kann niemand den Vogel hören. Wird der PH aber ausgeschaltet, ist der Vogel sofort und ohne weitere Aktion zu hören. Schaltet man den PH wieder ein, ist der Vogel nicht mehr zu hören. Also muss der PH immer ausgeschaltet bleiben, ansonsten hört man den Vogel (Selbst) nicht.

Im Falle des Verstandes kommt hinzu, dass man automatisch zum Verstand wird, wenn er aktiv ist. Das merkt man zB daran, dass man sich plötzlich irgendwo wiederfindet und nicht weiß, wie man dahin gekommen ist. Das nennt man „Wachschlaf“ und darin befinden sich ca. 99,99% aller Menschen. Sie schlafen, versunken in ihren Gedankengängen, im scheinbaren Wachen tiefer, als in der Nacht – obwohl sie glauben, hellwach zu sein.

Hier sieht man, wie Glaube wirkt: Man hält etwas für real, was faktisch nicht existiert. In Gemeinschaft mit anderen „Wachschläfern“ versichert man sich ständig gegenseitig, dass alle selbstverständlich wach und real sind. Jeder stützt die Persona (Maske) des anderen – damit ihm nicht jemand „seine Persona“ vom Gesicht reißt – und er „sein Gesicht verliert„.

Das ist der eigentliche Sinn und Zweck jeder Gesellschaft, jeder Gruppe und jedes Vereins: Die Illusion einer scheinbar getrennten Existenz als Ego-Körper-Mensch unter anderen, scheinbar realen Ego-Körper-Menschen in einer scheinbar getrennten und festen Außen-Welt aufrecht zu erhalten. Und es ist der Verstand, der dafür verantwortlich ist – denn der Verstand ist die perfekte Illusions-Erzeugungs-und-Aufrechterhaltungs-Maschine.

Der Verstand und das Gedächtnis sind nicht die Realität – sie sind die Verschleierung der Realität!

Lege den Verstand still und mache Dich leer – und sofort ist die Realität da: Stille, Frieden, Bewegungslosigkeit.

Das ist für mich dynamische Selbsterkenntnis:
Immer der zu bleiben, der ich bin: Bewusstsein
Immer so zu bleiben, wie ich bin:   still und leer
Und beides immer zu fühlen:       ständige Selbst-Erkennung

Das ist keine „Supermann-Fähigkeit“ – das Aufhören aller mentaler Tätigkeit ist der natürliche Zustand, wie ihn Kinder vor der Ausbildung des Verstandes haben. Das bedeutet, dass jeder als Kind in diesem Zustand war. Es ist eine Regression, keine Erweiterung, ein Weniger, nicht ein Mehr. Was soll daran Besonderes sein?