Wer den Wind reitet

Ich habe dieses Buch vor etwa zwanzig Jahren zum erstenmal gelesen. Damals hatte ich es in einer Bücherei entdeckt und verschlang es mehrere Male hintereinander. Alles, was ich darin las, klang fremd und exotisch und ich verstand fast nichts von dem, was darin angesprochen wird. Später habe ich das Buch gebraucht gekauft, da es nicht mehr im Handel erhältlich war. Ich habe es immer wieder gelesen, weil ich fühlte, dass da etwas wahres dran ist aber ich fand nie einen Zugang – das waren nur Worte. Zwar ist mir der Sinn mancher Erklärungen nach und nach aufgegangen aber nie der ganze Sinn aller Erklärungen.

Vor ein paar Tagen oder Wochen hat jemand ein Zitat daraus in seinem Blog veröffentlicht und da erinnerte ich mich wieder an das Buch. In den letzten Tagen habe ich es gelesen und diesmal war alles anders. Nicht nur habe ich endlich einen Zugang dazu gefunden – es gab keine einzige Passage, die ich nicht durchdringen konnte und vieles hatte ich auch schon selbst erlebt.

Der einzige Unterschied war, dass ich damals mit dem Verstand gelesen habe und versucht habe, zu verstehen, was da stand. Aber genau das funktioniert nicht, denn der Verstand kann nur lineares Wissen verarbeiten, er kann nur Kategorien bilden und sie miteinander verknüpfen und aus bereits gebildetem Kategorienwissen Rückschlüsse ziehen, wenn etwas neues auftaucht.

Aber er kann nicht im Moment existieren, denn das Funktionieren des Verstandes setzt einen raumzeitlichen Prozess in Gang. Hier „ich“ und der Verstand, da das Objekt und das zugehörige „Wissen“ und dann die Verarbeitung und Schlussfolgerung. Das Fühlen im Moment, in Nullzeit, oder das Sein im Moment ist etwas ganz anderes. Da gibt es keine Zeit und keine Trennung, weil alles immer nur Jetzt ist.

Alles, was wahrgenommen wird, hat genau die Eigenschaften, die es eben hat und das ist ein direkter Teil der Wahrnehmung. Es regnet, das Wasser ist kalt und nass – das ist ein direkter Eindruck, den man eindeutig fühlt und zwischen dem Erleben und dem Erlebten ist keine Lücke. Darüber muss nicht nachgedacht werden. Selbst wenn der Verstand anspringt und anfängt zu fluchen, dann ist auch das nur eine Wahrnehmung. Es gibt schlicht und einfach nichts, über das nachgedacht werden muss, außer, wenn tatsächlich einmal etwas zu planen wäre.

Wenn man das so betrachtet, dann kann man eindeutig sagen, dass Bewusstheit oder das Bewusstsein der jetzige Moment ist, in genau der Ausprägung, wie sie eben da ist. Das, was jetzt da ist, direkt zu fühlen und zu erleben und dabei voll bewusst zu sein, ist die Bedeutung von Bewusst-Sein. Da ist gar nichts besonderes dran, es ist sogar im Gegenteil sehr viel angenehmer und entspannender, als jedes Herumgemache im Verstand, das Unmengen an Energie verschlingt. Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr nachvollziehen, warum ich damals nichts begriffen habe, genauso, wie ich aus damaliger Sicht nicht hätte nachvollziehen können, wie man das Buch wirklich begreifen kann.

Nur ein Beispiel: im Buch ist von der „Hülle des Schauens“ die Rede und ich verstand einfach nicht, was das ist, genausowenig, wie ich verstand, was „sehen“ sein soll. Dabei ist das total einfach: Die Hülle ist das, was mich in meinem Zustand der dauerhaften Bewusstheit hält. Sie ist so dicht und hält mich so fest, dass ich nicht mehr heraus fallen kann. Und das Sehen ist einfach das Fühlen der aktuellen Wahnehmungs-Qualität im Moment.

Man kann dabei energetische Wahrnehmungen machen oder auch in die Materie hinein sehen – da gibt es einige Abstufungen – aber darauf kommt es gar nicht so sehr an, sondern auf den Akt der Wahrnehmung im Moment. Dieser Akt ist Bewusst-Sein. Bewusst-Sein oder Gewahr-Sein ist Wahrnehmung im Moment. Wenn da ein Wahrnehmender dazwischen sitzt, dann ist es nicht Bewusst-Sein – Bewusst-Sein ist Wahrnehmung, kein Wahrnehmender. Ein Wahrnehmender oder Beobachter ist noch Teil des Egos.

Zusammengefasst ist die Kernaussage des Buches und auch mein Verständnis: Suche nicht, bleibe einfach im Moment bewusst und fühle gleichzeitig den Körper und die Ereignisse und Gefühle – ohne zu denken. Wenn da das Gefühl einer Persönlichkeit ist, dann bist Du das persönliche Bewusstsein, das noch zwischen den Wahrnehmungen und dem Wahrgenommenen steht: der Seher. Wenn da kein Gefühl einer Person ist, und stattdessen eine große Weite, dann bist Du das universelle Bewusstsein oder Gewahrsein, das alles hervorbringt und gleichzeitig gewahrt. Das gesamte Universum ist ein einziger, zusammenhängender Prozess, in dem es keine Trennungen gibt, wie ein riesiger Fluss, der Richtung Meer fließt.

Kann das noch einfacher beschrieben werden? Ja, das geht: Sei einfach!

Das Buch gibt es nur noch gebraucht: Wer den Wind reitet von Douglas Lockhart.

Nachtrag:

Bewusst-Sein betrachtet alles durch einen Konstrukt hindurch, der als „ich“ erscheint. Damit ist Bewusst-Sein immer getrennt von der Wirklichkeit. Bewusst-Sein ist persönlich und eng. Und um das zu kompensieren, benutzt das Bewusst-Sein diverse Übungen, um sich transparenter zu machen.

Gewahr-Sein ist der Akt des direkten Betrachtens des Ereignis-Flusses, ohne dass irgendein Konstrukt zwischen der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen besteht. Der Fluss des Geschehens gewahrt sich selbst. Gewahr-Sein ist unpersönlich und weit und die Grundlage von Bewusst-Sein.

Die Definitionen ändern sich deshalb ständig, weil ich es alle paar Tage anders sehe. Das steigt auf, zeigt sich und fällt wieder zurück. Und beinahe jedesmal werden neue Perspektiven sichtbar, die sich zeigen wollen. Da ist nichts fest, das fließt und windet sich, wie ein ursprünglicher Fluss, ohne Dämme und Verbauungen.