Keine Spannung mehr aufbauen

Heute Morgen ist mir etwas wichtiges klar geworden – nämlich, was der Grund dafür ist, dass eine Äußerung „befreiend“ wirkt. Dazu muss ich etwas ausholen. Der Mensch scheint ein festes Wesen zu sein, aus Fleisch und Blut und mit einem Kopf oben drauf, in dem scheinbar das Bewusstsein und der Verstand sitzt. Das ist aber lediglich eine unbewiesene Annahme, da jedes Wesen lediglich über die Informationen seiner Sinnesorgane verfügt, die ihm sagen, wie sein Körper und die Umgebung angeblich beschaffen ist! Wie die Realität tatsächlich ist, kann daher niemand sagen.

Wir wissen nicht, wie die Außenwelt und der eigene Körper tatsächlich beschaffen ist – aber wir wissen, dass das eigentlich lebendige und Fühl- und Erkenntnis-fähige am Menschen das Bewusstsein ist. Das Bewusstsein ist das, was ein Mensch wirklich ist, es registriert einfach nur unbeteiligt, alles, was sich ununterbrochen zeigt. Bleibt man genau bei dieser Funktion, des Registrierens und Bezeugens dessen, was sich in den äußeren und inneren Sinneskanälen zeigt, dann gibt es keinerlei Probleme.

Probleme treten genau dann auf, wenn im Bewusstsein ein besonderer Prozess aktiviert wird: der Ich-Prozess und seine Auslöser, die Gefühle. Diese Gefühle steigen aber nur dann auf, wenn sich die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Informationsobjekt fokussiert. In diesem Moment wird dessen Informationsgehalt genauer analysiert und die entsprechenden Gefühle gebildet. Das wiederum aktiviert den Ich-Prozess, der erst die entsprechende Körperspannung aufbaut und diese dann wieder abreagieren muss.

Angenommen, es gibt im „äußeren Umfeld“ etwas „unschönes“ – der rechte Fuß ist gerade in einen frischen Hundehaufen getreten und jetzt stinkt der Schuh erbärmlich. In diesem Moment passiert folgendes: Die Nase registriert den Geruch, bildet ein Informationsobjekt mit dem entsprechenden Inhalt und sendet es zum Gehirn. Im Gehirn laufen alle Informationen zusammen, unter anderem das Stinker-Objekt. Aufgrund seiner Stärke, reagiert der Steuerungsprozess der Aufmerksamkeit und fokussiert diese auf das Objekt mit den Geruchsinformationen. Die Sauerei ist unangenehm und daher werden die entsprechenden Gefühle aktiviert, in diesem Fall ärgerliche Gefühle.

Sobald sich Gefühle zeigen, wird der Ich-Prozess aktiviert, dessen Aufgabe es ist, darauf zu reagieren. Die Reaktion auf diese Sauerei ist Ärger, der Verspannungen im Körper auslöst. Diese Verspannung muss nun wieder aufgelöst werden und das passiert mit einem impulsiven, ärgerlichen Ausruf: Scheiße! Dieser Ausruf ist selbstbefreiend, indem er die aufgebaute Spannung wieder abbaut. Falls dieser eine Ausruf nicht zur Spannungsabfuhr ausreicht, kann er wiederholt werden oder es können auch noch andere Reaktionen folgen, solange, bis die Spannung aufgelöst ist.

Das ist die Informations- und Reaktionskette im Menschen:
Sinnes-Information -> Aufmerksamkeit -> Gefühl -> Spannungsaufbau -> Reaktion -> Spannungsabfuhr.

Erst baut sich also eine körperliche Spannung auf, die schädlich für den Organismus ist und daher unbedingt wieder abgeführt werden muss. Dieser Effekt tritt bei jedem Menschen immer wieder auf und stört die reibungslose Funktion des Organismus. Wenn der Fall eintritt, dass die Spannung nicht sofort abgeführt werden kann und daher unterdrückt wird, dann setzt sich diese Spannung im Körper fest und zwar in Form von dauerhaften Muskelkontraktionen. Diese Dauer-Verspannungen wird man kaum wieder los und sie bleiben auch nicht auf einen Ort beschränkt, sondern befallen auch die jeweils angrenzenden Muskelstränge, so dass sich die Verspannung langsam im ganzen Körper ausbreitet.

Wenn man sich diesen Mechanismus vor Augen führt, dann wird vollkommen klar, warum eine „Äußerung“ befreiend wirk: weil sie eine aufgebaute Spannung auflöst! Aber das ist natürlich nicht die endgültige Lösung! Die endgültige Lösung besteht keinesfalls darin, immer auf die gleiche Weise weiter zu machen und einfach laut „Scheiße!“ zu brüllen oder sich auf andere Art öffentlich zu „ver-äußern“, um die selbst-aufgebaute innere Spannung wieder abzubauen!

Die endgültige Lösung besteht darin, erst gar keine Spannung aufzubauen! Man muss den Mechanismus unterbrechen, der die Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte der Sinneswahrnehmung lenkt, so dass sich daraus Gefühle entwickeln können, die zu Spannungsaufbau, Reaktion und Spannungsabfuhr führen. Wer das schafft, der kann in einen Hundehaufen treten, sich unbeeindruckt den Schuh abwischen und ruhig weiter gehen.

Wer so lebt, der wird nicht etwa zum Duckmäuser, sondern er wird Ärger einfach aus dem Weg gehen und wenn das nicht mehr geht, wird er sich ohne jede innerliche, moralische Reibung seiner Haut wehren, mit den Mitteln, die ihm gerade zur Verfügung stehen. So ein Mensch ist einfach eine reibungslos funktionierende Maschine, in der keine Spannungen mehr aufgebaut werden. Und wenn keine Spannungen mehr aufgebaut werden, dann besteht auch keine Notwendigkeit zur Spannungsabfuhr und zum Aufbau von komplexen Denkvorgängen, die sich damit beschäftigen. Diese Informations- und Reaktionskette und die daraus entstehenden Denkvorgänge fixieren 99,99% aller Menschen im peripheren Denk-Bewusstsein und schließen sie damit automatisch von der Erkenntnis ihrer selbst aus.

Genau das war es, was Siddharta Gautama Shakyamuni (Buddha=Erwachter) erkannt hat. Er hat erkannt, was den andauernden Ärger und die Probleme  im Menschen verursacht – und die ununterbrochene gedankliche Beschäftigung damit. Seine Lösung war, einfach damit aufzuhören, seine Aufmerksamkeit auf die Informationen seiner Sinnesorgane zu fokussieren. Damit hat er den inneren Informations- und Reaktions-Prozess an der Wurzel abgeschnitten und heraus kam ein vollkommen natürlicher Mensch – den nichts mehr erschüttern konnte. So ein Mensch ist automatisch im „Auge des Sturms“, im Zentrum des inneren Bewusstseins und damit direkt an der Quelle seines Seins. Er verfügt über eine optimale Funktion aller inneren und äußeren Kräfte und ist immer perfekt ausbalanciert.

Wer jetzt glaubt, dass das eine Illusion ist, dem sei gesagt, dass dieses Denken die Illusion ist. Es ist möglich und es ist auch möglich, den kompletten Ablauf der Informations- und Reaktionskette exakt zu verfolgen. Es ist tatsächlich möglich, jeden einzelnen Schritt zu sehen, die Information des Sinnesorgans zu erkennen (riechen), die Ankunft im Bewusstsein, der Kontakt damit, der sich wie eine kleine Energiewelle anfühlt und die Aufmerksamkeit fokussiert, die auftretenden Gefühle, die Spannung, die sich zuerst im Bewusstsein und danach im Körper aufbaut und die Reaktion des Ich-Prozesses mit dem nachfolgenden Spannungsaufbau. All das kann man bewusst verfolgen.

Das bedeutet aber natürlich noch nicht automatisch, dass dann auch in jedem Fall ein Spannungsaufbau unterbunden werden kann. Das muss geübt werden, wie das Laufen, Sprechen, Lesen und Schreiben. Das dauert – aber wenn man es erst einmal kann, dann ist das die perfekte Selbstbefreiung. Niemand kann die sogenannte „äußerliche Realität“ ändern oder auch nur beeinflussen, über die uns die Sinnesorgane mit Informationen versorgen. Das sind alles von selbst ablaufende natürliche Prozesse – das Gegebene, genauso wie der eigene Körper gegeben ist. Aber jeder hat es vollkommen in der Hand, ob und wie er auf diese natürlichen Prozesse reagiert!

Man kann sich also sein ganzes Leben lang darüber ärgern, wie doof es ist, wenn Hunde einfach irgendwo hinscheißen. Oder man schneidet diese Erkenntnis einfach an der Wurzel ab und kümmert sich hinfort nicht mehr darum. Denn, egal, was man auch tut, man wird weder das, noch etwas anderes ändern können. Aber man kann sehr wohl seine eigene Reaktion auf solche natürlichen Gegeben-heiten verhindern, indem man sie nicht mehr zur Kenntnis nimmt – so dass man sich anschließend nicht mehr ver-äußern muss, um seine selbst-aufgebaute Spannung wieder abzuführen und dann ein gutes Gefühl zu haben.