Praxis oder Philosophieren?

Es gab vor einigen Tagen einen Austausch mit jemandem, der versucht, die Wirklichkeit mit seinem Verstand zu durchdringen. Das nennt man „Philosophieren“. Derjenige meinte, dass man doch auch den Verstand als Analysewerkzeug benutzen sollte, um die Wirklichkeit zu untersuchen. Aus Sicht eines normalen Menschen hat er ja Recht – aber…

Die Natur der Wirklichkeit ist reines, absolutes Gewahr-Sein oder Bewusst-Sein – nicht-physisch und nicht-psychisch. Diese Natur bringt alles sinnlich Wahrnehmbare hervor, das gesamte Universum – somit auch den Körper und den Verstand jedes Menschen. Der menschliche Geist, genannt „Verstand“ ist eine duale Konstruktion, die auf Basis einer scheinbar physischen Einrichtung, namens „Gehirn“ operiert, in der eine Gedanken-produzierende Software namens „Verstand“ läuft.

Allerdings kommt die Funktion des Gehirns nicht aus dem Körper, genauso wenig wie die anderen Funktionen des Körpers. Der Körper ist nur ein Instrument, so wie das Gehirn nur der Bio-Computer ist, auf der die Verstandes-Software läuft. Die Software kann nicht im Gehirn gefunden werden – man kann dort nur ihre Aktivität messen – aber nicht die Ursache der Aktivität – die reine Lebenskraft und ein Teil des absoluten Bewusst-Seins ist.

Nochmal in Kurzform: Der Verstand ist eine Art „Software“, ein Programm das auf einem extrem leistungsfähigen Bio-Computer läuft – beide sind von der Lebenskraft gestaltet und erzeugt und werden auch von ihr betrieben. Es sollte jedem Menschen klar sein, dass ein von einem Menschen erzeugtes Programm niemals seinen Programmierer begreifen kann. Gleiches gilt für den Verstand, der als künstliches Produkt niemals seinen Schöpfer erfassen kann: die Lebenskraft und das absolute Bewusstsein.

Daher kann der Verstand auch keine brauchbare Definition der Natur des Universums und des Bewusst-Seins liefern. Das ist auch der Grund, warum die Physiker hilflos in den „Materiestrukturen“ herum suchen, in der Hoffnung nun endlich das kleinste Teilchen zu finden. Es gibt kein „kleinstes Teilchen“ – Materie besteht aus extrem schnell schwingendem absoluten Bewusst-Sein, genannt Lebenskraft oder Shakti.

Wer bis hierher noch mitgekommen ist, hat zumindest ansatzweise begriffen, dass es dem reinen Denken nicht möglich ist, die Natur des Universums zu begreifen. Wie kann man es aber sonst begreifen? Indem man in sich selbst die Natur dieses Universums erkennt, die reines Gewahr-Sein ist.

Das absolute Gewahr-Sein oder absolute Bewusst-Sein spielt ein „kleines Spielchen“ im gigantischen Maßstab im Inneren seines eigenen Bewusst-Seins. In diesem absoluten Bewusst-Sein werden kleine „Bereiche“ abgetrennt und in begrenzte Individuen umgewandelt. Dazu wird die Lebenskraft benutzt, mit deren Hilfe das absolute Bewusstsein über alles vorhandene Wissen verfügen kann und alles ausführen kann, was es möchte.

In den Individuen wird aber die Funktion dieser Lebenskraft umgedreht um das absolute Wissen und die absolute Schöpferkraft vor ihnen zu verstecken. Sie verfügen zwar über das gleiche absolute Bewusstsein – das aber aufgrund der Überlagerung mit Ego und Körper zu einem begrenzten, individuellen Bewusstsein wird. Sie verfügen aber nicht über die Lebenskraft – denn diese wird als Mittel zur Verschleierung der tatsächlichen Gegebenheiten eingesetzt. Die Lebenskraft schafft den Körper, das Ego, den Verstand und das individuell wahrgenommene Universum in jedem individuell abgetrennten Bereich des absoluten Bewusstseins. Außerdem stellt sie die Energie zur Ausübung dieser Funktionen zur Verfügung und steuert diese auch selbstständig.

Das absolute Bewusstsein hat einen völlig freien Willen. Das begrenzte Subjekt, das über keinerlei eigene Kraft verfügt, sondern lediglich einen belebten Roboter mit Bewusstsein darstellt, ist diesem Willen des absoluten Bewusst-Seins und seiner Lebenskraft aber vollständig ausgeliefert. Somit ist es völlig lächerlich, bei einem solchen Roboter einen freien Willen zu vermuten – wenn die benötigte Energie zum Betrieb aller Einrichtungen und die Steuerung der Einrichtungen aus einer fremdbestimmten Quelle kommt.

Im Individuum ist aber das individuelle Bewusst-Sein bis auf die Einschränkungen durch Ego, Verstand und Körper vollkommen identisch mit dem absoluten Bewusst-Sein. Alles, was nötig ist, um die tatsächlichen Gegebenheiten zu erkennen, ist im Wesentlichen Information und Erkenntnis. Informationen gibt es viele – man suche nach Kashimirischer Shivaismus, Abhinavagupta, Kshemaraja, Jaideva Singh, Lakshmanjoo und anderen. Empfehlenswerte englisch-sprachige Bücher im PDF-Format sind zB PratyabhijnahrdayamShiva-Sutras, Spanda-Karikas, Vijnana Bhairava oder Tantra-in-Practice. Dann gibt es noch verschiedene Bücher von Ramana Maharshi, die ich alle empfehlen kann. Vedantische Autoren kann ich nicht (mehr) empfehlen, denn die gehen zum großen Teil davon aus, dass es tatsächlich eine Dualität gibt – was ich aber aus eigener Erfahrung ausschließen kann.

Nachdem sich ein Mensch schlau gemacht hat und weiß, dass die Dinge nicht so sind, wie er sie sein ganzes Leben lang gesehen hat und das Universum sich nicht um ihn dreht – sondern er sich, zusammen mit dem Universum um die Quelle – wie eine Galaxie sich um ihren Mittelpunkt dreht – wird er versuchen, die Wahrheit in sich selbst aufzudecken. Es sollte klar sein, dass auch die Selbsterkenntnis von der Lebenskraft gesteuert wird. Niemand sollte glauben, Selbsterkenntnis betreiben zu können, wenn das für ihn nicht in dem Moment vorgesehen ist – das wird nicht funktionieren!

Wenn aber jemand von der Lebenskraft zur Selbsterkenntnis gedrängt wird, dann funktioniert diese niemals mit dem Verstand, sondern nur durch Beobachtung der körpereigenen Funktionen, Energiezentren, Energieflüsse und des individuellen Bewusst-Seins. Allerdings gibt es einen „kleinen“ Haken dabei: Bevor diese Beobachtungen gelingen können, muss zuerst der größte Feind des Menschen besiegt werden: sein eigener Verstand. Die Gedanken müssen weg – restlos – zumindest für die Zeit der Beobachtung. Ich weiß, dass es hier andere Meinungen gibt – die lasse ich auch so stehen, denn jeder Mensch ist anders. Aber bei mir mussten die Gedanken weg und sie sind weg! Es ist mir seit längerem möglich, vollkommen bewusst zu sein – und gleichzeitig willentlich zu denken oder auch nicht – ohne den Halt an mir selbst zu verlieren.

bewusstseinDie Gedanken sind meist völlig sinnlose Konstrukte, die sich um irgendwelche Ideen, Vorstellungen, Gefühle, Emotionen und Wahrnehmungen drehen. Sie bilden einen so dichten Vorhang (2) und das Individuum ist dermaßen in sie verstrickt, dass es beinahe unmöglich ist, hinter ihnen das Zentrum des Bewusstseins (1) zu entdecken. Da muss man aber hin, denn dieses stille Zentrum, das stille individuelle Bewusst-Sein, ist identisch, mit dem Übergangs-Bewusst-Sein, das beim Aufwachen erscheint und zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen leer von Ego, Körper und Verstand ist – was sich ein paar Sekunden später aber ändert…

Wie kommt man da hin? Mir gelang es, durch intensives Hören auf den inneren Ton. Anderen gelingt das durch Meditation oder irgendwelche Yoga-Übungen. Egal wie – aber man muss da hin, denn das gedankenfreie individuelle Bewusst-Sein ist der „Eingang“ zum absoluten Bewusst-Sein. Wenn die Gedanken tatsächlich weg sind, dann ist der Weg frei zu diesem Bereich. Ist man in diesem Bereich, wird man hellwach sein und eine tiefe (Gedanken-) Stille erleben und Frieden. Erlebt man das nicht, hängt man noch im Verstand und bildet sich nur ein, durchgebrochen zu sein. Es kann auch sein, dass man die Stille erlebt, schläfrig wird und einschläft – das ist dann aber einfach nur Schlaf und keine Bewusstheit! Man muss unbedingt hellwach bleiben!

Wenn man den Bereich des individuellen Bewusst-Seins regelmäßig aufsucht und dort immer länger bleibt, wird der Zustand der bewussten Stille und des Friedens irgendwann stabil und man muss nicht länger darum kämpfen, ihn aufrecht zu erhalten. Bei mir hat das etwa drei Jahre gedauert.

Ist der Zustand stabilisiert, dann kann man daran gehen, diese Übung auszuführen. Man bleibt ohne Anstrengung mit der Aufmerksamkeit im individuellen Bewusst-Sein, in dieser bewussten Stille und dem Frieden zentriert und bewegt sich gleichzeitig ganz normal in der alltäglichen Welt. Durch das gleichzeitige Schauen auf das Bewusst-Sein und auf die Objekte der äußeren Wahrnehmung erkennt man irgendwann, dass es keinen Unterschied zwischen dem inneren Subjekt, das reines Bewusst-Sein ist, und den äußeren Objekten gibt. Man erkennt dann, dass die scheinbar äußeren Objekte ebenfalls nur aus Bewusst-Sein bestehen und im eigenen Bewusst-Sein enthalten sind. Es wird ununterbrochen dynamisch erkannt, dass es keine Trennung gibt zwischen Beobachter und Beobachtetem.

Sobald man das realisiert hat und sich diese klare Wahrnehmung stabilisiert, ist man bei vollem Bewusstsein und im Körper mit dem absoluten Bewusst-Sein verbunden. Dann wird das individuelle Bewusst-Sein nach und nach auf die Höhe und Funktionsfähigkeit des absoluten Bewusst-Seins angehoben und letztlich darin absorbiert. Der Verstand ist dann wieder aktiv – aber nicht als Produzent von sinnlosem Gedankenmüll, sondern als Empfangs-Instrument absoluten Wissens aus der Quelle allen Seins.

Wer diesen Zustand erlebt, wird niemals wieder jemanden fragen müssen, was absolutes Bewusstsein ist oder göttliches Bewusstsein oder kosmisches Bewusstsein – denn er erlebt es im eigenen Körper seiend. Dann erübrigen sich auch sämtliche Diskussionen über diese Themen, denn wer solches erlebt, weiß unmittelbar und ohne einen einzigen Gedanken zu produzieren. Dies nennt man „Allwissenheit“ – denn das absolute Bewusstsein verfügt über sämtliches Wissen aus allen existierenden Dimensionen und Universen – und noch viel mehr, denn das absolute Bewusstsein ist mehr als die Summe seiner Teile, die es alle selbst hervorgebracht hat und aufrecht erhält. Es ist um alle diese Teile herum und durchzieht sie auch.

Es mag sein, dass andere das anders sehen – aber für mich ist es der Sinn des Lebens, das absolute Bewusst-Sein zu erreichen und diesen Seinszustand dauerhaft zu stabilisieren. Es reicht keinesfalls aus, einen untergeordneten Zustand zu erreichen, irgendwelche Meditationen, Vertiefungen oder irgendwelche innerlichen Sensationen! Das Ziel lautet: Im täglichen Leben ununterbrochen bewusst das ABSOLUTE zu SEIN. Alles andere ist für mich untergeordnet.