Die Kunst des Seins

Die Kunst des Seins ist die Fähigkeit, im aktionslosen und damit gedankenfreien Zustand des vollkommen klaren selbstbewussten Seins fest verankert zu sein, welches der Zustand absoluter Selbsthingabe und wahrer Selbsterkenntnis ist.

Wie jede andere Fähigkeit wird die Kunst des Seins durch Übung kultiviert und perfektioniert. Je mehr wir es praktizieren, desto mehr entwickeln wir die Kraft, die wir brauchen, um in unserem natürlichen, gedankenfreien Bewusstsein unseres eigenen Wesens beständig zu bleiben.

Wie viel Übung jeder von uns tatsächlich benötigt, um unsere Fähigkeiten in dieser Kunst des Seins zu perfektionieren, hängt vom relativen Grad unserer gegenwärtigen Reife oder Reife des Verstandes ab. Im Fall von Sri Ramana war nur ein Moment der Übung erforderlich, weil seine Gedanken zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen reif waren und daher bereit waren, sich selbst hinzugeben und im strahlenden Licht des unendlich klaren Selbstbewusstseins verzehrt zu werden. Die meisten von uns besitzen jedoch nicht einmal einen Bruchteil einer solchen Reife, daher benötigen wir eine lange und beharrliche Praxis dieser Kunst des Seins, um sie zu entwickeln.

Was meinen wir, wenn wir von Reife oder Reife des Verstandes sprechen? Unser Verstand wird geistig reif sein, wenn er gereinigt wurde von all seinen Wünschen – all seinen Vorlieben und Abneigungen, seinem Eigensinn, seinen Abneigungen, Ängsten und so weiter – und wenn er dadurch die Bereitschaft und wahre Liebe entwickelt hat, sich vollständig hinzugeben und friedlich in seinem eigenen, wesentlichen, selbstbewussten Sein (ICH) zu erlöschen. Unsere Wünsche (Neigungen und Abneigungen) sind die Hindernisse, die uns dazu bringen, uns nicht unserem unendlichen Wesen zu überlassen, und deshalb sind sie die Ursache und die Form unserer Unreife für Selbsterkenntnis.

Wie können wir die spirituelle Reife entwickeln, die wir brauchen, um uns im Zustand des absoluten Seins ganz hingeben zu können? Obwohl es viele Mittel gibt, mit denen wir indirekt und allmählich beginnen können, eine solche Reife zu kultivieren, können wir sie letztendlich nur durch das Praktizieren der Kunst des Seins perfektionieren. Alle anderen zahllosen Formen der spirituellen Praxis – wie selbstloser Dienst, dualistische Hingabe, rituelle Verehrung, Wiederholung eines Gottesnamens, Gebet, Meditation, verschiedene Formen innerer und äußerer Selbstbeschränkung (einschließlich ahiṁsā oder „Nicht-Schädigung„) – das „Mitgefühl„, d.h. die mitfühlende Vermeidung, jedem Lebewesen irgendeine Form von Schaden oder Leiden zuzufügen), der „achtgliedrige Pfad“ des Yōga und so weiter – sind indirekte Mittel, die es uns ermöglichen, unseren Verstand allmählich zu reinigen, ihn von den gröberen Formen seiner Wünsche zu reinigen und ihn dadurch zu reifen, aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Das heißt, da alle spirituellen Praktiken außer der Kunst des Seins, eine Extraversion unseres Verstandes beinhalten, eine Abkehr unserer Aufmerksamkeit von uns selbst, hin zu etwas anderem, können sie uns befähigen, uns selbst nur von den gröberen Formen unserer Wünsche und Anhaftungen effektiv zu befreien – aber nicht von den subtileren Formen.

Solange wir nicht anfangen, die Kunst des Seins zu praktizieren und unsere Aufmerksamkeit fest und ausschließlich auf unser eigenes Wesen, das Ich-Bin-Bewusstsein, gerichtet zu fixieren, können wir nicht die innere Klarheit und Konzentration erlangen, die notwendig ist, um den Aufstieg des Verstandes und seiner Wünsche rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern.

Wie können wir dadurch das Aufstehen unseres Verstandes erkennen und verhindern, indem wir die Kunst des Seins praktizieren? Wenn wir diese Kunst praktizieren, ist unsere Aufmerksamkeit auf unser essentielles, selbstbewusstes Sein gerichtet, welches die Quelle ist, aus der unser Verstand zusammen mit all seinen subtilsten Wünschen hervorgeht. Solange unsere Aufmerksamkeit auf diese Weise wachsam und fest auf sich selbst fixiert bleibt, wird unser Verstand unfähig sein, aufzustehen.

Wenn wir aber auch nur die geringste Erschlaffung unserer wachsamen Selbstaufmerksamkeit zulassen, dass unsere Aufmerksamkeit durch jeden Gedanken wankend und abgelenkt wird, werden wir dadurch in der Gestalt unseres denkenden Verstandes aufsteigen. Aber indem wir diese Kunst des selbst-aufmerksamen Seins wiederholt praktizieren, werden wir die Fähigkeit erlangen, eine solche Erschlaffung unserer wachsamen Selbst-Aufmerksamkeit in dem Moment zu entdecken, in dem sie stattfindet, und so werden wir unsere Selbst-Aufmerksamkeit sofort wiedererlangen können Dadurch verhindern wir, dass unser Verstand in dem Moment aufsteigt, in dem er auftritt.

Je mehr wir diese Kunst des Seins praktizieren, desto stärker und klarer wird unsere Selbst-Achtsamkeit – und dadurch wird unser Können in der Kunst, den Aufstieg unseres Verstandes in seiner Quelle zu ersticken, stetig zunehmen. In jedem Augenblick, in dem es uns gelingt, selbst den geringsten Anstieg unseres Verstandes wachsam zu verhindern, werden die Wünsche, die ihn aufkommen lassen, stetig geschwächt, und unsere Liebe, friedlich in unserem natürlichen Zustand des Seins zu bleiben, wird proportional gestärkt werden, bis schließlich alle unsere verbleibenden und sehr geschwächten Wünsche völlig überwältigt werden was uns in die unendliche Klarheit wahren Selbsterkennens versetzt.

Abgesehen von dieser Praxis eines sehr wachsamen, aufmerksamen, selbst-achtsamen Seins (mit Fokus auf das Ich-Bin-Bewusstsein) gibt es keine angemessenen Mittel, durch die wir alle unsere Wünsche schwächen und zerstören könnten, einschließlich sogar unserer subtilsten und daher mächtigsten. 

Alle anderen spirituellen Praktiken beinhalten eine Art von Aktivität unseres Verstandes, und solange unser Verstand aktiv ist, wird er effektiv alle seine innersten Wünsche schützen, einschließlich seines fundamentalen Wunsches, als ein separates individuelles Bewusstsein zu existieren. Indem wir unseren Verstand in irgendeine Aktivität einbeziehen, können wir sein grundlegendes Verlangen nach Selbsterhaltung nicht zerstören, und solange es dieses grundlegende Verlangen beibehält, wird es es weiterhin unterstützen und nähren, indem er Wünsche kultiviert.

Das heißt, das Streben unseres Verstandes nach Selbsterhaltung, das von allen Formen der spirituellen Praxis abgesehen von der vollkommen selbstverleugnenden Kunst des wachsam selbstsüchtigen Seins befriedigt und unterstützt wird, kann nicht für sich allein stehen, sondern muss von einem Begehren nach etwas anderem als sich selbst begleitet sein. Dieses Bedürfnis wird durch jede andere Form der spirituellen Praxis befriedigt, weil alle diese Praktiken unseren Verstand mit etwas anderem als sich selbst versorgen. Sie zwingen unseren Verstand dazu, sich um etwas anderes als sich selbst zu kümmern. Daher kann eine solche Übung unseren Verstand nicht dazu bringen, alle seine Wünsche aufzugeben, insbesondere nicht seinen tiefsten Wunsch, die eigene getrennte Existenz zu bewahren.

[Quellen: englisch, PDFdeutsch]