Der Geist des Zen – Die Zen-Lehre des chinesischen Zen-Meisters Huang Po (770-850 n. Chr.)
1. Der Meister sagte zu mir: Alle Buddhas und alle Lebewesen sind nichts als der eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar. Er ist weder grün noch gelb, hat weder Form noch Erscheinung. Er gehört nicht zu der Kategorie von Dingen, die existieren oder nicht existieren. Auch kann man nicht in Ausdrücken wie alt oder neu von ihm denken. Er ist weder lang noch kurz, weder groß noch klein, denn er überschreitet alle Grenzen, Maße, Namen, Zeichen und Vergleiche. Du siehst ihn stets vor dir, doch sobald du über ihn nachdenkst, verfällst du dem Irrtum.
Er gleicht der unbegrenzten Leere, die weder zu ergründen noch zu bemessen ist. Der eine Geist allein ist Buddha, und es gibt keinen Unterschied zwischen Buddha und den Lebewesen, nur dass diese an Formen festhalten und im Außen die Buddhaschaft suchen. Durch eben dieses Suchen aber verlieren sie sie. Denn sie benutzen Buddha, um Buddha zu suchen, und benutzen den Geist, um den Geist zu erfassen. Selbst wenn sie ein Aeon lang ihr Äußerstes leisten würden, sie könnten die Buddhaschaft doch nicht erreichen. Sie wissen nicht, dass ihnen in dem Augenblick, in dem sie das begriffliche Denken aufgeben und ihre Unruhe vergessen, Buddha erscheinen wird; denn dieser Geist ist Buddha und Buddha ist alle Lebewesen. Er ist nicht kleiner, wenn er sich in gewöhnlichen Dingen, noch größer, wenn er sich als Buddha manifestiert.
2. Da du im Grunde in jeder Hinsicht vollkommen bist, solltest du nicht versuchen, diese Vollkommenheit noch durch das Üben der sechs Paramitas (Barmherzigkeit, Vorschriften, Geduld, eifriges Streben, Meditation, Weisheit) und von unzähligen ähnlichen Übungen sowie das Sammeln von Verdiensten unzählig wie die Sandkörner des Ganges zu ergänzen. Wenn Gelegenheit für Übungen vorhanden ist, führe diese aus; wenn die Gelegenheit vorüber ist, gib Ruhe. Wenn du nicht vollkommen überzeugt bist, dass der Geist Buddha ist, sondern noch an Formen, Übungen und verdienstvollen Taten hängst, ist deine Art zu denken falsch und völlig unvereinbar mit dem Weg. Der Geist ist Buddha. Es gibt keine anderen Buddhas oder irgend einen anderen Geist. Er ist strahlend und fleckenlos wie die Leere und hat überhaupt keine Form noch Erscheinung. Den Geist für begriffliches Denken zu benutzen, bedeutet die Substanz zu lassen und sich an Formen binden. Der Ewig-Seiende-Buddha hat keine Gestalt und ist kein Gegenstand der Bindung. Die Übung der sechs Paramitas und Myriaden ähnlicher Übungen, die dazu führen sollen, ein Buddha zu werden, bedeutet ein stufenweises Voranschreiten. Der Ewig-Seiende-Buddha aber ist kein Buddha der Stufen. Erwachst du bloß zum Einen Geist, so gibt es nichts anderes mehr zu verwirklichen. Dies ist der wirkliche Buddha. Der Buddha und alle lebenden Wesen sind der Eine Geist und nichts anderes.
3. Der Geist gleicht der Leere, in der es keine Verwirrung und kein Böses gibt, wenn die Sonne sie durchkreist und in die vier Himmelsrichtungen erhellt. Denn, wenn die Sonne aufsteigt und die ganze Welt erleuchtet, nimmt die Leere nicht an Glanz zu – und wenn sie niedergeht, wird die Leere nicht dunkler. Die Erscheinungen von Licht und Dunkel wechseln sich ab, das Wesen der Leere aber bleibt unverändert. Das gleiche gilt für den Geist des Buddha und der Lebewesen. Wenn du Buddha für eine reine, strahlende oder erleuchtete Erscheinung hältst, die Lebewesen aber für üble, dunkle und todgeweihte Gestalten, so werden dich diese Vorstellungen, die deinem Haften an Formen entstammen, von der höchsten Erkenntnis fernhalten, auch dann noch, wenn du so viele Aeonen durchschritten hast, wie es Sandkörner am Ganges gibt. Es existiert nur der eine Geist und kein Teilchen von irgend etwas anderem, an das man sich anklammern könnte. Denn dieser Geist ist Buddha. Wenn ihr Schüler auf dem Weg nicht zu dieser Geistsubstanz erwacht, werdet ihr den Geist mit begrifflichem Denken überlagern, den Buddha außerhalb von euch selbst suchen und gebunden bleiben an Formen, frommen Übungen und anderem, was schädlich und keineswegs der Weg zur höchsten Erkenntnis ist.
7. Das Ansammeln von Gutem, wie von Schlechtem, hat beides mit dem Haften an der Form zu tun. Wer Schlechtes tut, weil er der Form verhaftet ist, muss zahllose Inkarnationen durchlaufen. Doch jene, die an der Form haftend Gutes tun, laden sich ebenso nutzlose Mühen und Entsagungen auf. In beiden Fällen ist es besser, plötzliche Selbstverwirklichung zu erlangen und den grundlegenden Dharma zu erfassen. Dieser Dharma ist der Geist; jenseits von ihm besteht kein Dharma. Dieser Geist ist der Dharma, jenseits von ihm besteht kein Geist. Geist an sich ist kein Geist, ebensowenig ist er Nicht-Geist. Die Aussage, der Geist sei Nicht-Geist, setzt etwas Existierendes voraus. Mögen wir in schweigendem Begreifen verharren – weiter nichts. Fort mit allem Denken und Erklären! Dann ist der Weg der Worte abgeschnitten, die Bewegungen des Geistes sind ausgeschaltet. Dieser Geist ist die reine Buddha-Quelle, die allen Menschen innewohnt. Alle sich bewegenden Wesen, die vom Leben durchpulst sind, alle Buddhas und Bodhisattvas, bestehen aus dieser reinen Substanz und unterscheiden sich nicht voneinander. Verschiedenheiten entstehen nur durch falsches Denken und bewirken vielfältiges Karma.
Nochmal: Verschiedenheiten entstehen nur durch Denken!
Denken = Ego (Ich-Gedanke) = Verschiedenheiten (richtig, falsch, gut, böse) und andere Egos sehend.
Es gibt kein „falsches oder richtiges Denken“ – Denken an sich IST falsch, denn es ist von Natur aus trennend und kategorisierend also das Falsche überhaupt erst hervorbringend. Unterschiede sind immer nur Gedanken über Unterschiede.