Die Prozessbrille

Seit längerem sehe ich das Leben hier eindeutig als autonom ablaufenden Prozess. Das war nicht immer so und diese Sicht ist auch nicht immer gleich, sie hat die Tendenz, sich zu verstärken. Ich will einmal ein Beispiel geben…

In der Verwandtschaft ist jemand krank. Meine Frau und ihre Schwester mussten sich um bestimmte Fragestellungen kümmern, zum Beispiel, wo der Kranke gepflegt wird und ob er für eine Kurzzeitpflege ins Altenheim kommt, in eine Kurzzeit-Geriatrie in einem Krankenhaus oder in eine Reha-Maßnahme.

Dazu musste mit dem Krankenhaus verhandelt werden, mit dem Sozialdienst, mit dem Altenheim und mit dem Hausarzt. Die beiden gaben alles, kämpften und verloren auf der ganzen Linie. Als meine Frau dann entnervt aufgab und offenbar auch ihre Schwester, kam eine Weile später ein Anruf vom Krankenhaus, dass der Kranke bald verlegt wird – er kommt in die Geriatrie.

Als ich das hörte, begann ich zu lachen und sagte: „Hier siehst Du, wie das Universum spielt. Solange Du kämpfst und willst, spiegelt es Dir Deinen Kampf – gibst Du aber auf – ohne das Problem selbst aufzugeben – dann geht der Prozess seinen eigenen Gang.

Sie sieht das nicht so, sondern denkt in Kategorienen von „verantwortlichen Ärzten und Sozialdienstleistern, die da endlich etwas auf die Reihe bekommen hätten„. Natürlich werden diese Figuren benutzt – schließlich spielt sich Leben ja nicht ohne greifbare und sichtbare Strukturen ab – aber sie tun das nicht von sich aus – sie werden in die Richtung bewegt und tun genau das, was das Leben in Form des Universums jeweils will – und zwar jeweils exakt zum richtigen Zeitpunkt.

Wer das bei sich selbst verifizieren kann und nicht nur einmal, sondern immer wieder, der kommt nicht umhin, das Leben als Prozess zu sehen und damit auch alles um ihn herum. Es gibt da keine Egos – das einzige, existente Ego ist im eigenen Kopf – falls es gerade da ist. Alle anderen Egos sind die Spiegelung des Glaubens an das eigene Ego. Mit anderen Worten: Wer sich bewusst oder unbewusst als Ego sieht, der sieht durch die Egobrille überall Egos. Wer sich als ablaufenden Prozess sieht, der sieht durch die Prozessbrille diesen überall am Werk.

Es geht hier also nicht um eine „besondere Sicht„, um etwas „göttliches“ oder „Esoterik.“ Es geht um weniger, nicht um mehr, um die nackte Sicht auf den anonym ablaufenden Lebensprozess, an sich – ohne irgendwelche Ego-Vorstellungen.

Wer das Leben nackt sieht, der kann „da draußen“ keine „Egos“ mehr sehen, keine „Vollidioten, die alles falsch machen“ und keine „dämlichen Deutschen„, die nur Kreuzchen machen aber sich ansonsten von der Politik abwenden. Natürlich ist das momentan so – aber da sind keine Verantwortlichen, sondern nur ein einziger, integrierter Lebensprozess, der nur so ausschaut, als ob da einzelne Entitäten wären.

Das Interessante ist, dass jeder, der das nicht so sieht, auf solche Ansagen sehr allergisch reagiert. Es passt einfach nicht ins eigene Weltbild, dass das alles automatisch abläuft. „Da muss man doch etwas tun, sich bemühen, seine Energie voll einbringen, Visionen haben und verfolgen, etwas voran bringen, etwas bewerkstelligen, Erfolgserlebnisse haben, dem Land dienen, Menschen helfen…“ Genau DAS ist das Ego!

Es scheint extrem schwer zu sein, die Ego-Vorstellung loszulassen, als ob das Leben endet, wenn diese Vorstellung geht. Dabei wird es dann viel einfacher! Wenn die Ego-Vorstellung nicht da ist, wird das Leben extrem vereinfacht, denn dann gibt es nur noch HIER und JETZT, keine Sorgen, Nöte und Vorstellungen, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Leben ohne Ballast.

Fragen, wie: „Werde ich morgen noch da sein?“ oder „Wie alt werde ich?“ oder „An welcher Krankheit werde ich sterben?“ – solche Fragen existieren nicht im Moment. Im Moment gibt es überhaupt keine Fragen – nur das DASEIN und den Blick auf den dynamisch ablaufenden Prozess.