„Meine Handlungen sind aufrichtig“, sagte Don Juan“, aber sie sind nur die Handlungen eines Schauspielers.“
„Dann muss alles, was du tust, kontrollierte Torheit sein“, sagte ich, ehrlich überrascht.
„Ja, alles“, sagte er.
„Aber es kann doch nicht wahr sein“, wandte ich ein, „dass alle deine Handlungen nur kontrollierte Torheit sind.“
„Warum nicht?“ sagte er und sah mich geheimnisvoll an.
„Das würde heißen, dass im Grunde nichts an dich herankommt und dass dir an keiner Sache und keiner Person wirklich liegt. Nimm mich, zum Beispiel. Willst du sagen, dass es dir egal ist, ob ich ein Wissender werde oder nicht, oder ob ich lebe oder sterbe oder sonst was tu?“
„Richtig! So ist es. Du bist wie Lucio (Don Juans Enkelsohn) oder wie jeder andere in meinem Leben, meiner kontrollierten Torheit.“Ich hatte ein eigenartig leeres Gefühl. Selbstverständlich gab es keinen Grund, warum Don Juan an mir etwas liegen sollte, aber andererseits war ich so gut wie sicher, dass er persönlich Anteil an mir nahm. Ich konnte es mir nicht anders vorstellen, da er mir immer seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ich hatte den Verdacht, dass Don Juan dies, weil er sich über mich ärgerte. Immerhin hatte ich seine Lehren abgebrochen.
„Ich glaube, dass wir nicht über dasselbe sprechen“, sagte ich. „Ich hätte mich aus dem Spiel lassen sollen. Was ich sagen wollte, war, dass es irgend etwas auf der Welt geben muss, an dem dir in einer Weise liegt, die du nicht als kontrollierte Torheit bezeichnest. Ich glaube nicht, dass man weiterleben kann, wenn einem nichts nahe geht.“
„Das trifft auf dich zu“, sagte er. „Dir gehen die Dinge nahe. Du hast mich nach meiner kontrollierten Torheit gefragt, und ich habe dir geantwortet, dass alles, was ich in Bezug auf mich und meine Mitmenschen unternehme, Torheit ist, weil nichts wichtig ist.“
„Ich meine folgendes, Don Juan: wenn dir nichts nahe geht, wie kannst du dann weiterleben?“
Er lachte, und nach einer kurzen Pause, während er zu überlegen schien, ob er mir antworten sollte, stand er auch und ging hinter das Haus. Ich folgte ihm.
„Warte, Don Juan, warte“, rief ich. „Ich möchte es wirklich wissen. Du musst mir erklären, was du meinst.“
„Vielleicht kann man es nicht erklären“, sagte er. „Dir gehen bestimmte Dinge in deinem Leben nahe, weil sie wichtig sind. Deine Handlungen sind für dich sicher wichtig, aber für mich ist gar nichts mehr wichtig, weder meine Handlungen noch die Handlungen irgendeines meiner Mitmenschen. Ich lebe trotzdem weiter, weil ich meinen Willen habe. Weil ich mein ganzes Leben lang meinen Willen gezähmt habe, bis er klar und dienstbar wurde, und jetzt macht es mir nichts mehr aus, dass nichts wichtig ist. Mein Wille kontrolliert die Torheit meines Lebens.“
Er hockte sich nieder und fuhr mit den Fingern über ein paar Kräuter, die er auf einem großen Stück Sackleinen in die Sonne zum Trocknen gelegt hatte. Ich war verblüfft. Ich hätte nie geglaubt, dass meine Frage in eine solche Richtung führen würde. Nach einer langen Pause fiel mir ein guter Einwand ein. Ich sagte, dass für mich gewisse Handlungen meiner Mitmenschen von größter Bedeutung seien. Ich erwähnte den Atomkrieg als das zweifellos drastische Beispiel einer solchen Handlung. Die Zerstörung des Lebens auf der Erde, sagte ich, sei für mich eine erschreckende Ungeheuerlichkeit.
„Das glaubst du, weil du dir Gedanken machst. Du denkst über das Leben nach“, sagte Don Juan augenzwinkernd. „Du ‚siehst’ nicht.“
„Wäre ich anderer Meinung, wenn ich ‚sehen’ würde?“
„Sobald ein Mann ‚sehen’ lernt, stellt er fest, dass er allein auf der Welt und nur von Torheit umgeben ist“, sagte Don Juan rätselhaft.
Er machte eine Pause und sah mich an, als wolle er die Wirkung seiner Worte abschätzen.
„Deine Handlungen, wie auch die Handlungen deiner Mitmenschen im allgemeinen, erscheinen dir wichtig, weil du gelernt hast, sie wichtig zu nehmen.“
Er sprach das Wort „gelernt“ mit so eigenartiger Betonung aus, dass ich ihn fragen musste, was er damit meinte.
„Wir lernen, über alles nachzudenken, und dann üben wir unsere Augen darin, die Dinge so zu sehen, wie wir über sie denken. Wir schauen uns an und sind im voraus überzeugt, dass wir wichtig sind. Darum müssen wir uns wichtig ‚vorkommen’! Aber wenn ein Mann ‚sehen’ lernt, erkennt er, dass er nicht länger über die Dinge nachdenken kann, die er anschaut, und wenn er erkennt, dass er über das, was er sieht, nicht mehr nachdenken kann, dann wird alles unwichtig.“
„Wie übt ein Wissender seine kontrollierte Torheit, wenn ein Mensch, den er liebt, stirbt?“ fragte ich.
Don Juan war von meiner Frage überrascht und sah mich belustigt an.
„Nimm zum Beispiel deinen Enkel Lucio“, sagte ich. „Wenn er stürbe, wäre dann dein Handeln kontrollierte Torheit?“
„Sprechen wir lieber von meinem Sohn Eulalio“, antwortete Don Juan ruhig, „das ist ein besseres Beispiel. Er wurde bei den Bauarbeiten am Pan American Highway von herabfallenden Gestein zerschmettert. Mein Verhalten ihm gegenüber, im Augenblick seines Todes, war kontrollierte Torheit. Als ich auf dem Sprengplatz ankam, war er fast tot, aber sein Körper war so stark, dass er sich noch immer bewegte und aufbäumte. Ich stand vor ihm und sagte den Leuten von der Straßenbaugruppe, sie sollten ihn nicht forttragen. Sie gehorchten und standen dort um meinen Sohn herum und schauten auf seinen verstümmelten Körper herab. Auch ich stand dort, aber ich schaute nicht hin. Ich veränderte meine Augen um zu ‚sehen’, wie sein persönliches Leben sich auflöste und sich unkontrollierbar über seine Grenzen hinaus ausdehnte, wie ein Kristallnebel; denn so ist es, wenn Leben und Tod sich verbinden und ausdehnen. So verhielt ich mich, als mein Sohn starb. Das ist alles, was man überhaupt tun kann, und es ist kontrollierte Torheit. Hätte ich ihn angeschaut, dann hätte ich beobachtet, wie er allmählich erstarrte, und ich hätte in meinem Inneren einen Schrei gespürt, weil ich nie wieder seine schöne Gestalt über die Erde würde schreiten sehen. Statt dessen ‚sah’ ich seinen Tod, und da war keine Trauer, kein Gefühl. Sein Tod war allem anderen gleich.“
Aus „Eine andere Wirklichkeit“ [Quelle]
Don Juan sagte: „…wenn er erkennt, dass er über das, was er sieht, nicht mehr nachdenken kann, dann wird alles unwichtig.“
Ich würde es etwas anders formulieren: Wenn das Nachdenken und Reflektieren aufhört, dann werden alle Dinge unwichtig, weil das Nachdenken und Reflektieren genau der Prozess ist, der den Dingen ihre Wichtigkeit verleiht.
Don Juan: Sobald die Ketten der Selbstbetrachtung zerrissen sind, sind wir nicht mehr an die Sorgen der Alltagswelt gefesselt. Wir sind noch immer in der Alltagswelt, aber wir gehören nicht mehr dazu. Um dazu zu gehören, müssten wir die Sorgen der Leute teilen, und ohne Ketten können wir es nicht. Als Durchschnittsmensch haben wir alle ein gemeinsames Merkmal, einen symbolischen Dolch, die Sorgen unserer Selbstbetrachtung. Mit diesem Dolch schneiden wir uns blutig.
Die Ketten unserer Selbstbetrachtung geben uns das Gefühl, als bluten wir gemeinsam, als teilten wir mit anderen Menschen etwas Wunderbares: Unsere Menschlichkeit. Bei genauerer Prüfung aber entdecken wir, dass wir allein bluten und dass wir überhaupt nichts gemeinsam haben; dass wir uns in unserem manipulierbaren, unwirklichen und von Menschen gemachten Selbstbild spiegeln. Hat man die Einheit erreicht, lebt man nicht mehr in der Welt der alltäglichen Sorgen und ist nicht mehr Opfer seiner Selbstbetrachtung. Genau so ist das.
Don Juan beschreibt im unteren Teil, wie er miterlebte, als sein Sohn starb. Er schaute ihn aber nicht direkt an, denn das hätte nur Trauer ausgelöst. Stattdessen SAH er innerlich, wie das Leben aus seinem Sohn heraus floss. Aber das tat ihm nicht weh, denn er sah das rein nur mit dem unpersönlichen Gewahrsein, also unter Ausschaltung jeglicher Persönlichkeit. Genau deshalb trauerte er anschließend auch nicht.
Er machte also exakt das gleiche, wie ich: Er drehte sich weg von dem Leiden, das er ohnehin nicht beeinflussen konnte. Das nenne ich intelligent. Andere würden das kaltherzig nennen. Ich nenne aber sinnloses Leiden, das keinem dient, sondern nur den eigenen Vorstellungen geschuldet ist – wie etwas sein sollte – einfach nur dumm und naiv.
Warum soll ich an etwas leiden, das ich nicht getan habe, nicht ändern kann und gar nicht ändern will? Das wäre ja, wie daran zu leiden, dass jetzt Winter ist – ich aber gerne Sommer hätte. Genau darum ignoriere ich die politische Situation auf dieser Welt, weil ich sie nicht beeinflussen kann und auch nicht mehr beeinflussen will. Sie ist, wie sie ist.
Wer das nicht kann, wem alles und jedes wichtig ist und wer alles und jedes anders haben will – der muss dann natürlich auch hinsehen und sich äußern – und zwar mit dem klaren Wissen, nichts tun zu können – aber etwas tun zu wollen und das impliziert immer Leiden.
Für mich ist das nichts – ich tue nur dort etwas, wo ich tatsächlich etwas ausrichten kann – und das ist in meinem Leben und ganz konkret, wenn zum Beispiel etwas zu reparieren ist – oder wenn der Lebensunterhalt verdient werden muss.
Meine Frau sagt manchmal, ich wäre kalt, hauptsächlich dann, wenn jemand stirbt und ich ihr in einem oder zwei Sätzen auseinandersetze, dass da nur ein toter Körper liegt – aber das Leben – das ihn ja ausmacht – das kann nicht verschwinden.
Sie weiß das, denn sie hat auch diverse Erfahrungen gemacht und ich habe ihr das bestimmt schon hundertmal gesagt – aber sie will das nicht sehen und akzeptieren. Sie ist eben eine Frau und die sind normalerweise sehr sozial eingestellt – und daher ist es immer schlimm, wenn einer stirbt. Ich bin mittlerweile antisozial eingestellt und sage auf den Punkt, was ich sehe und fühle. Das kommt oft nicht gut an. Ich sage ihr zum Beispiel dann, dass der Gestorbene sehr krank war und es für ihn doch eine Erleichterung sei, nicht mehr leiden zu müssen – aber nein, auch das ist nicht schön, sondern maximal bittersüß. Hier sind eindeutig Vorstellungen am Werk.
Da muss ich wohl noch kontrollierte Torheit lernen…
Mit anderen Worten: ich fühle A, sage aber Z – oder einfach gar nichts, um niemandem weh zu tun und keinen Aufruhr zu verursachen. Momentan empfinde ich das noch als Lüge – aber wenn das Sehen immer weiter und tiefer geht, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.