Die Funktion des Ego-Ich

In den meisten spirituellen Traditionen wird das Ego-Ich verteufelt. Es wird gleichgesetzt, mit allen Übeln, die ein Mensch erleben kann. Das rührt daher, dass jeder mit seinem Ego-Ich identifiziert ist und es im Selbsterkenntnis-Prozess darum geht, sich von diesem Teil zu lösen, sich nicht mehr damit zu identifizieren, sondern mit seinem höheren Selbst. Erst wenn man sich davon lösen kann, beginnt man zu verstehen, um was es sich beim Ego-Ich wirklich handelt.

Technisch ausgedrückt handelt es sich beim Ego-Ich um eine Kommunikations-Schnittstelle zwischen den inneren Zuständen des Menschen und von außen kommenden Einflüssen. Kein normaler Mensch käme auf die Idee, die Kommunikations-Schnittstellen seines Computers zu zerstören, denn ohne diese kann er nicht funktionieren. Man könnte sogar sagen, dass der Computer nichts anderes ist, als eine Sammlung solcher Schnittstellen, die auf intelligente Art und Weise miteinander interagieren.

Das menschliche Ego-Ich ist also nichts anderes, als eine persönliche Schnittstelle zur Kommunikation mit der Außenwelt. Bei der Erziehung wird darauf geachtet, dass diese Schnittstelle so geformt (verformt) wird, dass sie zu den familiären und gesellschaftlichen Strukturen passt, in denen ein Mensch aufwächst. Sie wird damit kompatibel gemacht.

Es ist völlig klar, dass ein Mensch nicht sein Ego-Ich oder der Verstand ist, genauso wenig, wie ein Bordcomputer oder das Fahrlicht identisch mit dem Auto oder dem Fahrer des Autos ist. Sie sind nicht das Ganze, sondern Teile, die zur korrekten Funktion des Ganzen benötigt werden. Genauso ist es mit dem Ego-Ich – es wird benötigt zur Kommunikation mit anderen Ego-Ichs. Ohne diese Funktion könnte ein Mensch nicht in dieser Welt leben.

Daher ist es Unsinn, zu sagen, dass die Kommunikations-Schnittstelle endgültig abgeschaltet werden muss. Was getan werden muss, das ist, das Ego-Ich als das zu sehen, was es ist: eine Kommunikations-Schnittstelle, eine rein funktionale Außen-Identität. Das führt dann im weiteren Verlauf des Selbsterkenntnis-Prozesses dazu, dass etwaige Schäden und Verbiegungen am Ego-Ich repariert werden, was aber nicht die Aufgabe des Menschen ist, sondern das wird sich im Prozess der Selbsterkenntnis von selbst ergeben, wenn alle Teile an ihren richtigen Platz fallen.

Das Ego-Ich ist nicht nur die Kommunikations-Schnittstelle, sondern bildet auch, zusammen mit dem Körper, die Identität eines Menschen in dieser Erscheinungs-Welt. Der Beweis dafür findet sich unter anderem auf dem Ausweis. Dort sind zugehörige Daten vermerkt, wie der Namen, die Körpergröße, die Augenfarbe, die Wohnadresse und die Staatszugehörigkeit. Das ist eindeutig die Beschreibung einer Identität.

Was nicht auf dem Ausweis vermerkt ist, das ist die andere Identität, die wirkliche Identität desjenigen, der „hinter dem Menschen steht“ – die Identität seines Bewusstseins, seiner Seele, die er wirklich ist. Aber um diese Identität zu werden, braucht man nicht die andere wegzuwerfen oder abzutöten, sondern man muss einfach seine Identität wechseln.

Nach außen hin tritt man auf mit der Identität, die auf dem Ausweis vermerkt ist – und weiß dabei immer, dass dies nur eine scheinbare Identität ist, die aber notwendig ist, zum korrekten Funktionieren in dieser Welt. Dann ist die äußere Identität, bestehend aus Körper und Ego-Ich, ein dynamischer Ausdruck des Inneren in der Erscheinungswelt – wenn das Ego-Ich an seinen richtigen Platz gefallen ist und in eine korrekten Beziehung mit der wirklichen Identität eingetreten ist.

Wenn man das so sehen kann, gibt es keinen Grund mehr, das Ego-Ich oder den Verstand zu verteufeln – genauso wenig, wie es Sinn macht, sein Auto oder seinen Computer zu verteufeln. Sie werden benutzt, wenn es eine Notwendigkeit dafür gibt und wenn man sie nicht mehr braucht, werden sie für die Dauer der Nicht-Benutzung abgeschaltet.

Es ist unbedingt notwendig, die in diesem Beitrag mitschwingende Nüchternheit auf die Untersuchung der funktionalen Teile seiner selbst anzuwenden. Etwas abzulehnen und „wegmachen“ zu wollen, zeigt nur auf, dass der Mensch noch nicht die wahre Bedeutung des betroffenen Teiles versteht. Andernfalls hieße das ja, dass er klüger wäre, als die erschaffenden Strukturen dieser Realität.

Die Realität macht keine Fehler – der Mensch hat ein falsches Verständnis der Realität.