Denkfehler und Fühldefizite

Es ist interessant, wenn jemand sagt, dass die anonyme Lebenskraft sämtliche Aspekte des Lebens eines Menschen bestimmt und der Mensch selbst nichts tun kann, weil ja nichts anwesend ist, außer dem Ego, das nur ein konstruiertes Programm darstellt. Kurz – alles geschieht von alleine und da ist niemand, der irgend etwas tun kann.

Andererseits wird dann aber gesagt, dass die Menschen sich bemühen müssen, um das Ego zu erkennen und loszuwerden, denn von alleine geht das nicht. Auf der anderen Seite kommt aus der gleichen Ecke die Behauptung, dass innere Arbeit „Esoterik“ wäre.

Das ist der Denkfehler, den alle Non-Dualisten begehen!

  1. Entweder die Lebenskraft bestimmt alle Aspekte des Lebens vollkommen, zu einhundert Prozent – dann ist tatsächlich in keinem Menschen die Möglichkeit vorhanden, irgend etwas aus eigener Kraft und eigenem Antrieb zu tun. Der Mensch wäre dann lediglich eine tote, ferngesteuerte Puppe – die nicht einmal aus eigener Kraft und eigenem Antrieb denken oder furzen kann.
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  2. Oder der Mensch hat innerhalb der Erscheinungswelt einen gewissen Einfluss auf sein eigenes Leben. Dann könnte er sich zum Beispiel gründlich oder schlampig die Zähne putzen, den Hintern abwischen oder arbeiten. Dieser Einfluss wäre allerdings relativ gering – da das Leben aller Wesen sehr stark miteinander verwoben ist, so dass sich der Einfluss eines einzelnen Wesens außerhalb seines eigenen Lebens kaum auswirken kann. Außerdem wird jeder Mensch so sehr konditioniert, dressiert, verbogen und an die Gesellschaft angepasst, dass alleine das schon dazu führt, dass er fast keine Entscheidungsspielräume hat.

Beide Möglichkeiten können NICHT gleichzeitig existieren. 

Es gibt eine Lösung für dieses Dilemma! Woran liegt es, dass Advaita-Anhänger oder andere Menschen mit Erleuchtungs-Erfahrungen glauben, dass alles von selbst geschieht? Weil sie sich nicht selbst im Körper fühlen und verorten können! Sie empfinden sich als „anwesend“ – aber sie können sich nicht im Körper lokalisieren – empfinden diesen entweder als leer oder fühlen eine Art Loch oder Schwärze. Es mag noch andere derartige Empfindungen geben – aber es sollte klar sein, was gemeint ist.

Solche Menschen fühlen, dass sie anwesend sind und wissen, dass das Anwesende Bewusstsein ist. Aber sie glauben nicht, dass dieses Bewusstsein ein individuelles Bewusstsein ist, sondern dass es das universelle oder absolute Bewusstsein wäre!

Genau das ist der Grund für den Denkfehler – und das liegt eindeutig daran, dass man sich auf der Bewusstseins- und Subjektivitäts-Ebene nicht selbst fühlen kann. Das führte zu der Theorie des Non-Dualismus, der davon ausgeht, dass es nur das Absolute gibt und keine vom Absoluten geschaffenen geistig-energetischen Individuen, die auf den Konstruktionsprinzipien des Absoluten basieren. Sie gehen davon aus, dass die Erscheinungswelt im Bewusstsein des Absoluten residiert und dieses Bewusstsein direkt in allen Wesen vorhanden ist – was jegliche Individualität ausschließt.

Würde sich solch ein Mensch selbst wirklich fühlen können, seine individuelle Subjektivität, sein individuelles Bewusstsein – wenn man so will seine „Seele“ – dann wäre diese Theorie für diesen Menschen im gleichen Sekundenbruchteil gestorben, in dem er erkennt, dass er das ist. Aber offensichtlich konnte nicht einmal ein Maharaj sich selbst fühlen – daher tat er alles, um von diesem Körper und der Erscheinungswelt wegzukommen und sich mit dem universellen Bewusstsein zu verbinden und damit möglichst vollständig zu verschmelzen. Er glaubte, dass das Anwesenheitsgefühl, das im Körper gefühlt wird, nur mit dem Ego zusammenhängt. Das ist eindeutig falsch! Ich weiß das hundertprozentig, denn ich kann mich fühlen – nicht als „schwarzes Loch„, sondern alle Bewusstseins- und Ich-Zentren. Und ich kann mich mit dem universellen Bewusstsein verbinden – aber ich bin es nicht!

Tatsache ist, dass es verschiedenste Wahrnehmungen gibt, die dazu benutzt werden können, um sich selbst zu fühlen und damit zu identifizieren. Ich liste einmal auf, was mir dazu einfällt, in aufsteigender Qualität:

  1. Außenwahrnehmungen
  2. Körper und Körperempfindungen (Physis)
  3. Emotionen und Gefühle (Psyche)
  4. Gedanken, Vorstellungen, Ideen (Verstand, Ego)
  5. Unbewusste Präsenz, die in manchen Momenten durchscheint
  6. Bewusste Präsenz (dauerhaft –  oder temporär und bewusst herbeiführbar)
  7. Energie (statisch, dynamisch)
  8. Individuelle Subjektivität
  9. Innere Aufmerksamkeit (gerichtet, ungerichtet)
  10. Bewusstsein (kann nur durch Bewusstsein/innere Aufmerksamkeit erkannt werden)
  11. Absenz (Surrender)

Menschen, die sich selbst, ihre eigene Individualität und Subjektivität, nicht wirklich fühlen können, kommen maximal bis Punkt 6. Das ist der Zustand „jenseits der Schwelle„, der zum Beispiel bei blitzartigen „Erleuchtungserfahrungen“ erreicht werden kann. Dieses Stadium entspricht einer Tür, die temporär geöffnet wurde, um dem Aspiranten den Eintritt zu ermöglichen, damit er beginnen kann, sich zu entwickeln. Ohne diesen bewussten Zugang ist keine wirkliche Selbsterkenntnis möglich – und mit auch nur dann, wenn begonnen wird, zu arbeiten.

Denn es wäre das erste Mal, dass ein Mensch ein schwieriges Studium mit der Note eins abschließt – nachdem er die gesamte Studien-Zeit schlafend in seinem Bett verbracht hat.

„No one succeeds without effort. Those who succeed owe their success to perseverance.“
Ramana Maharshi

Dass man etwas nicht selbst fühlen kann, bedeutet nicht, dass es nicht existiert – sondern nur, dass man es nicht fühlen kann…