Heute Nacht entschlüsselte sich mir der Begriff „offene Weite“, als ich die halbe Nacht im Bett lag, ohne zu schlafen. Es war wie so oft – der Körper lag da, tief entspannt – und „ich“ war da und sah zu. Die kaum spürbare Wahrnehmung des Körpers verschmolz beinahe mit dem schwarzen und leeren Hintergrund.
Irgendwann bewegte sich ein Finger und sofort, ohne jeden Zeitverzug, fokussierte sich die Wahrnehmung auf genau diese eine Bewegung. Dabei wurde erkannt, dass der Wahrnehmungsraum sich einengte und genau diese eine Wahrnehmung umschloss. Das ging solange, wie die Bewegung dauerte und die muskuläre Nachwirkung der Bewegung verklungen war. Dann verschmolzen die einzelnen Wahrnehmungsteile wieder fast mit dem Hintergrund und der Wahrnehmungsraum verlor seine Eingrenzung.
Dann erklang die Kirchturmglocke einmal. Bommm Erneut fokussierte sich die Wahrnehmung – diesmal auf den Klang. Es war deutlich zu spüren, dass da nur der Klang war – kein Ich, kein Gedanke, der sagte: ich höre die Glocke. Da war nur der Klang. Er hatte eine deutlich wahrnehmbare „Gestalt“, wie ein scharf abgegrenzter Fleck in der Schwärze. Das dauerte exakt so lange, bis der Schalldruck nachließ – wobei sich der Fleck von den Rändern her auflöste, durchsichtiger wurde und dann ganz verschwand. Die scharfe Grenzlinie wurde dabei zunehmend undeutlicher, bis alles weg war. Daraufhin verschmolz die Wahrnehmung erneut mit dem leeren und schwarzen Hintergrund.
In dem Moment machte es Klick. Genau in dem Moment wusste ich mit hundertprozentiger Klarheit, was die „offene Weite“ ist. Es ist ein nulldimensionales, nichtzeitliches und eigenschaftsloses Wahrnehmungs-„Feld“, in dem alles erscheinen kann – egal, welche Eigenschaften es hat. Und ich bin das.
Mir war auch im selben Augenblick klar, warum dieses Feld der Wahrnehmung keine Eigenschaften haben darf: weil sonst nicht alles unverfälscht darin erscheinen kann. Wäre es hell, könnte man kein Licht sehen. Wäre es schwarz, könnte man kein schwarz sehen. Hätte es eine bestimmte Größe, sagen wir einen Meter Durchmesser – wie könnte darin der Mond, die Sonne oder die Milchstraße erscheinen?
Es wird „offene Weite“ genannt, weil es aufgrund seiner Eigenschaftslosigkeit offen ist, für jegliche Wahrnehmungs-Qualität – und immer genau so weit (groß), wie erforderlich, um die jeweilige Wahrnehmung aufzunehmen.
Ich hatte Anfang 2014 schon mehrere ähnliche Erlebnisse gehabt – aber immer nur entweder im Halbschlaf oder beim Aufwachen und sehr flüchtig, so dass es noch nicht ganz klar gewesen war, so als ob ein Schleier darüber ausgebreitet wäre. Danach ist im November 2014 noch einiges geschehen. Seitdem ist ein Dreivierteljahr vergangen, in dem diese Erlebnisse integriert wurden. Beim heutigen Erlebnis war ich wach gewesen und daraus resultiert auch die Klarheit.
Der Grund, warum man die „offene Weite“ nicht erkennt, ist, dass sie keine Merkmale hat, an der man sie erkennen kann. Sie ist der unsichtbare Hintergrund, hinter allen Erscheinungen und hat keine Eigenschaften, keinen Namen und keinen Geburtstag. Sie war schon immer und wird immer sein – zumindest fühlt es sich so an. Und es ist auch logisch, denn wenn darin alle raumzeitlichen Erscheinungen auftauchen und verschwinden, dann hat sie nicht nur keine Eigenschaften, sondern ist auch außerhalb jeglicher Zeit.
Die meisten Menschen bilden sich ein, dass sie ihre Wahrnehmungen (Körper, Gedanken, Gefühle) sind. Sie werden geboren und sehen einen Körper und jemand sagt: das bist Du und Du heißt Martin. Also sind sie ab dem Moment dieser Körper und heißen Martin – sie verschmelzen vollständig mit der Wahrnehmung, identifizieren sich damit. Aber bevor sie das wussten, waren sie nur die Wahrnehmung, in der dieser Körper erschien.
Das ist immer noch so – aber weil sie hundertprozentig glauben, dieser Körper zu sein und dass da draußen die Welt ist, in der sie sich bewegen und handeln, übersehen sie die richtige Perspektive. Sie übersehen sie vor allem auch deshalb, weil man das Wahrnehmungsfeld nicht wahrnehmen kann, wie ich oben schon beschrieben hatte. Man kann es nur sein – man muss sich damit identifizieren. Dazu muss aber erst einmal die Erkenntnis da sein, nicht der Körper zu sein – damit dann erkannt werden kann, dass man das ist, was diesen Körper enthält.
Jeder ist ein individualisierter Punkt im unendlichen Wahrnehmungsfeld der eigenschaftslosen „offenen Weite“. In diesem ausdehnunslosen Punkt tauchen Wahrnehmungen auf und verschwinden wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die „offene Weite“ hat keinerlei Eigenschaften, das heißt, man kann sie nicht sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, spüren, tasten, greifen oder sonstwie wahrnehmen. Sie ist da – aber nur als absolute Gewissheit zu existieren. Manche sagen auch Nichts oder Leere dazu. Es ist absolut banal: reine, unbeschränkte und eigenschaftslose Existenz. Aber in Wirklichkeit kann niemand sagen, was es tatsächlich ist, denn weil es keine Eigenschaften hat, kann man es auch nicht beschreiben, sondern nur umschreiben. In Wirklichkeit kann man es nur sein.
So wird das im Buddhismus ausgedrückt, mit dem ich zwar nichts zu tun habe – aber anerkenne, dass man es kaum besser ausdrücken kann:
Frage: „Sage mir – welches ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit?“
Antwort: „Offene Weite – nichts von heilig.“
Frage: „Wer bist du, der mir hier gegenübersteht?“
Antwort: „Das weiß ich nicht.“
Nachtrag um 18:30 Uhr: Es ist, als wäre gar nichts geschehen. Heute Morgen war ich in einer Art Euphorie, die sich daraus speiste, dass das Erlebnis noch so frisch war und so unerhört klar. Alle vorherigen Ereignisse hatte ich immer irgendwie im Halbschlaf oder bein Aufwachen erlebt. Ich erinnere sie auch recht gut. Aber das heutige Erlebnis ist vollständig aus dem Gedächtnis verschwunden. Gut, dass ich es sofort aufgeschrieben habe. Möglicherweise war ich am Morgen noch in einem veränderten Bewusstseinszustand gewesen, der sich jetzt wieder verflüchtigt hat. Das ist aber nur eine Vermutung.