Der natürliche Zustand des Verstandes

Die Stille ist der ununterbrochene Hintergrund, auf der die Gedanken, Objekte und Bewegungen erscheinen, wie Bilder auf der Kinoleinwand. Manche sagen auch „weißes Papier“ dazu. Das ist der natürliche Hintergrund, der immer da ist, auch dann, wenn man sich in den Reflexen verliert, die auf dem Hintergrund erscheinen.

Meiner Erfahrung nach, ist das Denken eine bewusste Anstrengung – außer ich verliere mich in einem Vorgang, weil ich emotional involviert bin – wie am Sonntag, bei der Sache mit dem Falschparker auf meinem Parkplatz. Dann ist die Rückkehr zur natürlichen Stille keine bewusste Anstrengung, sondern ein Zurückfallen da hinein, sobald die Anstrengung (Denkvorgang, Involvierung) endet.

Die Stille ist der Ausgangspunkt und wenn die Anstrengung endet, geschieht immer ein Zurückfallen. Bei normalen Menschen endet die Anstrengung auch – aber nur, um im nächsten Augenblick die nächste Anstrengung zu machen. Die Lücke zwischen diesen beiden Anstrengungen ist der Hintergrund. Daher kann keine Aktion dahin führen, denn eine Aktion ist eine Anstrengung, die einen erneut vom Hintergrund abhebt.

Es muss ein automatisches Loslassen von jeglicher Anstrengung geschehen, um den Hintergrund wieder zu erreichen – welcher der Ausgangspunkt war für die Anstrengung. Um ein greifbares Bild zu benutzen: Der Erdboden war der Ausgangspunkt, bevor der Fuß sich darüber erhob. Das Erheben des Fußes ist eine muskuläre Anstrengung und das Absetzen das Aufheben der Anstrengung. Um vom Boden (stillen Hintergrund) zu flüchten, wie es die meisten Menschen tun, geschieht ein ununterbrochenes Rennen (Denken), das erst dann endet, wenn die Muskeln ermattet sind – dann sinken beide Füße zu Boden (einschlafen).

Der stille Verstand ist der Ausgangspunkt für das Denken. Gedanken tragen die Stille in sich, denn sie sind bewusst von der Stille aufgestiegen und sinken genauso bewusst wieder in sie zurück. Genau so erlebe ich den natürlichen Denkvorgang. Es ist, wie wenn ein Schmetterling sich von der Blüte erhebt, zwei oder drei Flügelschläge macht und wieder auf die Blüte zurück sinkt. Stille ist natürlich, schwingungsfrei, anstrengungsfrei, vor jeder Anstrengung und danach.

Wie kann man den Hintergrund halten und den Verstand daran hindern, immer neue Gedanken zu produzieren? Ganz einfach dadurch, dass man den Hintergrund nicht nur aufsucht, sondern ihn als „ICH SELBST“ fühlt. Dann nimmt die innere Aufmerksamkeit den Hintergrund (Bewusstsein) als subjektives Bewusstsein (ICH) wahr. Das verhindert eine Leckage von Energie an den Verstand und das Aufkommen immer neuer Gedanken. Das ist relativ simpel, kann aber nur von denjenigen durchgeführt werden, die schon den Hintergrund fühlen können.

Das ist also keine Technik, um den Hintergrund zu realisieren, sondern ihn dauerhaft zu halten! Wer das so macht, schafft eine Balance zwischen dem stillen Hintergrund und dem Auftauchen von Erscheinungen darauf – das heißt, das Gefühl des Hintergrundes bleibt auch dann präsent, wenn Objekte (Gedanken, Wahrnehmungen…) darauf erscheinen. So kann man bewusst, aus der Stille heraus denken, wobei die Stille erhalten bleibt und die Gedanken als eine Art „modulierte Stille“ erlebt werden.

Das ist allerdings eher eine Methode des Dzogchen, als eine von Anadi, denn hier fehlt der bewusste Kontakt mit dem bewussten Ich, dem reinen Ich und dem universellen Bewusstsein. Aber für den Anfang ist es völlig ausreichend, um die Wahrnehmung des Hintergrundes zu stabilisieren.

Nachtrag: Die Stille alleine ist nicht, was wir sind – sie ist eine Ausprägung, eine Eigenschaft des leeren Bewusstseins – genauso wie die Stille der Quelle nicht die Quelle ist, sondern eine ihrer Eigenschaften. Liebe, Stille, Unendlichkeit, Allwissenheit, Allmächtigkeit – das sind alles Eigenschaften der Quelle und nicht die Quelle selbst. Daher muss man letztlich die Präsenz der Stille überschreiten und direkt mit der Quelle verschmelzen.

Nachtrag 23.05.2017 22:08:
Diese Aussage von Maharaj habe ich gerade gefunden, sie passt perfekt zu meiner eigenen Erfahrung, die ich oben beschrieben habe: „No particular thought can be mind’s natural state, only silence. Not the idea of silence, but silence itself. When the mind is in its natural state, it reverts to silence spontaneously after every experience, or, rather, every experience happens against the background of silence.“