Der natürliche Zustand

Der natürliche Zustand ist vollkommen spontan, frisch, wachsam, aufmerksam – und leer von Gedanken. Darum ist er auch leer von Konzepten, Angst, Hoffnung, Gier und Emotionen. Er ist für alle gleich und ausnahmslos alle sind darin. Leider weiß das nur praktisch niemand. Ich habe vor einigen Tagen einen Beitrag geschrieben, der davon handelt, wie man diesen Zustand bewusst erfahren kann. Dieser Zustand ist zwar total grundlegend, einfach und simpel aber es gibt kaum jemanden, der sich dessen bewusst ist, dass es diesen Zustand gibt und was er eigentlich ist.

Der natürliche Zustand ist das einfachste, was es gibt! Jeder ist von Natur aus identisch mit diesem Zustand aber kaum einer erkennt ihn. Beim Aufwachen und beim Einschlafen erfährt ihn jeder und auch beim Gähnen, Nießen, vor dem Einatmen und nach dem Ausatmen. Es ist ein einfacher, entspannter, spontaner, hellwacher Zustand, ohne Gedanken, Anhaften oder Ablehnung, räumlich und Gedankenfrei.

Im Moment der Erkenntnis der eigenen Essenz steht der Verstand still, weil der Denker verschwindet. In dem Moment wird der natürliche Zustand offenbar und spontan erkannt. Alle Menschen, die ein blitzartiges Erleuchtungserlebnis hatten, können das bestätigen. Das gilt natürlich auch für diejenigen, die spontan eine dauerhafte Erfahrung der eigenen Essenz erfahren. Soweit mir bekannt ist, kann so etwas vorkommen, wie zum Beispiel bei Ramana Maharshi und Suzanne Segal. Wenn man so will, ist ein blitzartiges Erleuchtungserlebnis so etwas, wie ein Türöffner. Es zeigt, dass da etwas ist, das bisher nicht beachtet wurde und wie es sich anfühlt. Aber der Zustand entgleitet offenbar relativ schnell wieder und wenn das so ist, dann hat man nur eine Chance, da wieder hinein zu kommen: man muss üben, ihn wieder zu erkennen und beizubehalten.

Dieser Zustand ist eine helle Wachheit gekoppelt mit einem spontanen, intuitiven, absoluten Wissen, dass der Geist leer ist, dass er unsichtbar und nicht wahrnehmbar ist und dass dies alles eine untrennbare Einheit ist. Man erreicht diesen Zustand und weiß in dem Moment intuitiv und mit absoluter Sicherheit, dass die eigene Natur leer und ungeteilt ist. Wer das absolut sicher weiß und direkt erkennen kann, und dieses Wissen und das direkte Erkennen ununterbrochen aufrecht erhalten kann, der kann nicht in Gedanken abdriften, und sich an irgend etwas anhaften. Das ist ununterbrochenes, wahres Wach-Sein – ungeteilter Buddha-Geist – auch „Leere“ genannt.

In diesem hellwachen und spontanen Bewusstsein gibt es keine Gedanken über die gerade gemachte Erfahrung oder das gerade gewahrte Objekt. Wenn ein Baum im Blickfeld erscheint, denkt der Denker also nicht: „das ist ein Baum“ oder nur „Baum“ oder „Eiche“. In dem Moment, wo die Natur des Denkers als leer erkannt wird, steigt gar kein Gedanke auf oder ein entstehender Gedanke löst sich sofort von selbst wieder auf. Genau so ist das bei mir – da wird nie „Baum“ oder „Auto“ gedacht, da ist einfach nur sehen. Bei einem normalen Menschen kommt aber immer sofort die Konzeptbildung in Gang, wenn er etwas wahrnimmt, dort herrscht nie Ruhe.

Wer um seine leere Natur weiß und sich immer daran erinnert, der kommt langsam dahin, diesen Zustand immer länger und immer öfter zu erleben. Man kann ihn nicht „machen“, man kann ihn nur immer wieder erkennen, ihn so lassen, wie er ist und in ihm sein. Wer in diesem Wissen ist und einen aufkommenden Gedanken nur anschaut, der wird erleben, dass dieser sofort verschwindet. Es besteht dann keinerlei Notwendigkeit mehr, irgend etwas an Gedanken oder Gefühlen herumzuschrauben. Es genügt vollkommen, aus diesem ursprünglichen Gewahrsein heraus auf irgend einen Gedanken oder eine Emotion zu schauen, um das Objekt in die eigene Leere hinein aufzulösen.

Wer das gar nicht weiß oder nicht ununterbrochen weiß, der wird außerhalb dieses Wissens automatisch Gedanken erzeugen und sich darin verstricken, in der Art: „das mag ich, das mag ich nicht, das will ich, das will ich nicht, das muss besser werden, das muss sich ändern, warum sind alle nur so unbewusst, Scheiß-Politk…“ […] und so weiter. Das ist Selbst-Mord.

Aber das muss ja nicht so bleiben! Jeder hat die Chance, seinen natürlichen Zustand zu entdecken und zu erkunden! Der Vorteil beim Hören auf den inneren Ton ist, dass dies kein „aktives Meditieren“ ist. Man muss nichts dazu tun, außer sich bei Abweichung vom natürlichen Zustand, wieder auf den inneren Ton auszurichten. Es ist eher so etwas, wie ein „passiver Anker“, ein „Indikator“, an dem man erkennt, ob man noch „da“ ist oder nicht. Indem man konzentriert auf den inneren Ton hört, wird alles still und man ist im natürlichen Zustand.

Sollte in dem Zustand Schläfrigkeit mitschwingen kann man jederzeit eine ruckartige Bewegung machen, einen lauten Schrei ausstoßen oder sonst etwas, was einen wieder hellwach macht. Dann ist der frische, natürliche Zustand „da“ – man hat sich damit verbunden und bleibt einfach dabei, ohne etwas daran zu verändern. Man muss sich diesen Zustand genau anschauen und spüren, wie es sich anfühlt und sich das alles merken. Wenn man aus dem Zustand heraus fällt, was man u.a. an aufsteigenden Gedanken erkennt, versucht man, ihn spontan wieder zu erkennen. Falls das nicht gelingt, hört man einfach auf den inneren Ton, wird ruhig und ist wieder in seinem natürlichen Zustand.

Das muss man immer wieder machen, so etwas wächst nicht auf Bäumen, das muss erlernt werden, wie laufen, sprechen, lesen und schreiben. Am Anfang wird es immer nur für kurze Momente erlebt. Wenn man aber immer weiter übt, während der ganzen Wachphase immer wieder zum inneren Ton und von da zur Natürlichkeit wechselt, dann wird das immer länger erfahren. Erst sind es nur Sekunden, dann Minuten und schließlich Stunden und am Ende den ganzen Tag lang. Schließlich beginnt sich dieser hellwache Zustand auch in den Traum und den Tiefschlaf auszudehnen. Der Körper schläft dann – aber es ist immer noch ein Rest-Bewusstsein da, welches sich selbst gewahrt.

Siehe auch: Dzogchen – Rigpa