Alles, was nötig ist, um sich selbst als das einzige Subjekt, das Selbst zu erfahren, ist, sich jederzeit und unter allen Umständen des eigenen Bewusst-Seins als das erfahrende Subjekt bewusst zu sein – und gleichzeitig alle Objekte, die im Wahrnehmungsfeld auftauchen, wahlfrei zu gewahren und sie als die eigene Ausdehnung anzusehen. Wer dazu in der Lage ist, sollte gleichzeitig seinen Geist von allen Gedanken leeren. Wer noch nicht dazu in der Lage ist, sollte zuerst lernen, auf den inneren Ton zu hören und die Gedanken abzuschalten – und erst danach diese Übung durchführen.
Das ist vollkommene Präsenz und Wachheit in Bezug auf Subjekt und Objekt, von Moment zu Moment – und wird erreicht, durch eine willentliche Ausrichtung der Aufmerksamkeit nach innen – wobei die Objektwahrnehmung aufrecht erhalten wird. Man ist sich dadurch bei jeder Erfahrung immer auch des Erfahrenden bewusst. Wer so SEIN kann, der erlebt zwar noch sein persönliches Bewusstsein – aber gedankenfrei und dadurch weitgehend identisch mit dem verborgenen Selbst – und dem wird sich das verborgene Selbst irgendwann „von selbst“ offenbaren. Denn der durch diese Übung verursachte Zustand ist identisch mit dem eines vollständig Selbst-bewussten Menschen.
Das ist keine Theorie, sondern entspricht meiner Erfahrung, denn diese Übung entstand mehr oder weniger automatisch aus dem Hören auf den inneren Ton. Um zu kontrollieren, ob Bewusstheit da ist, hörte ich nicht nur auf den Ton, sondern schaute auch immer nach innen. Schon seit längerem ist das aber keine Übung mehr, sondern einfach mein normaler Zustand – ich bin einfach gedankenfrei und wachsam da.
Allerdings wusste ich nicht, dies eine Übung im Tantra ist – ich habe sie erst in den letzten Tagen im Buch Tantra-in-Practice gefunden. Dort heißt sie Bhairavi-Mudra oder Sambhavi-Mudra. Mit „Mudra“ sind aber keine Handhaltungen gemeint, wie beim Yoga, sondern so etwas wie ein „Siegel“ oder „Anzeichen“. Damit ist gemeint, dass ein Mensch in einem bestimmten Bewusstseinszustand die dazugehörigen „Anzeichen“ aufweist. Man kann aber den Zustand herbeiführen, indem man das „Anzeichen“ als eine Art Übung „simuliert“. Abhinavagupta nennt das Konzept Bimba (Bild) und Pratibimba. (Reflexion) Zum Nachschlagen: Bhairavi-Mudra im Buch Tantra-in-Practice ab Seite 576 und Pratibimba ab Seite 578. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass die oben beschriebene Übung, bzw. dieser Zustand dazu führt, dass innere Veränderungen eintreten – ohne dass sonstige Übungen, wie Meditation oder Trance durchgeführt werden.
Im Vijnana-Bhairava-Tantra Vers 80 wird sie folgendermaßen beschrieben: „Fixing the gaze on some outer object and yet at the same time making his mind free of the prop of all thought constructs, the yogin acquires the state of Siva without delay.“ Im Buch Tantra-in-Practice heißt es dazu: „The Sambhavi mudra is understood as a description of the highest state of yogic achievement.“ und „[Abhinavagupta] speaks about the Sambhavi mudra as a spontaneous occurrence in the body, which is precipitated not as a practice engaged in order to attain liberation but rather as that very condition of liberation itself.„
Andere Möglichkeiten, um hinter die endlosen Reihen von Gedanken zu gelangen und die Natur des Selbst-Bewusst-Seins zu erfahren sind: das Lauschen auf den inneren Ton, das Eindringen in die Lücke zwischen zwei Gedanken/Gefühlen/Tönen/Wahrnehmungen – und das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit und Konzentration auf den gedankenfreien Hintergrund. Generell sind die Lücken oder Zwischenräume zwischen zwei Objekten oder Wahrnehmungen der Schlüssel, um den Hintergrund (das Selbst) zu erfahren, auf dem diese erscheinen. Man kann diesen Hintergrund aber weder durch Lesen, noch mit Diskussionen oder Philosophieren erkennen, sondern ausschließlich durch Praxis und persönliche Erfahrungen!
Dieser nicht wahrnehmbare Hintergrund ist das Echte, nicht das, was darauf erscheint und von dem alle geblendet sind. Den Hintergrund kann man zwar nicht direkt wahrnehmen – aber man kann ihn an seiner energetischen Aktivität erkennen: am subtilen Pulsieren und Blitzen des Bewusstseins.
Wer sich als identisch mit dem Selbst im unendlichen Ozean des Gewahr-Seins erlebt, nimmt so wahr: pulsierend: „ich bin“ und „ich bin dies alles“. Aber das sind keine Gedanken oder Vorstellungen, sondern ein klares Gefühl, so wie der normale Mensch seinen Körper ganz selbstverständlich als „Ich“ wahrimmt – was aber leider völlig falsch ist.
Das, was jeder ist, ist das nicht wahrnehmbare Gewahr-Sein, der Selbst-bewusste „Raum“, in dem dieser Körper erscheint, genauso wie alle anderen weltlichen Objekte, Gedanken und Gefühle. Der normale Mensch identifiziert sich mit seinem Körper, weil er nicht mehr das reine, Selbst-bewusste Gewahr-Sein, das sich selbst als „Ich-Selbst“ empfindet als sein Selbst erkennt.
Dieses Gefühl ist im Gewahr-Seins-Ozean seiend sehr stark, geradezu euphorisch – und aus dieser Euphorie heraus schafft das Selbst alles, was ist. Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ist offenbar normal, solange man in einem Körper lebt – aber im Gewahr-Seins-Ozean gibt es keine solche Trennung – da ist alles nur Gewahr-Sein, wirbelt durcheinander und blinkt und glitzert.
Es ist beinahe unfassbar, dass die Verschleierung so effektiv ist, dass dieses starke Gefühl im Normalzustand nicht durchkommt. Denn, würde jeder dieses starke Gefühl „Ich-Selbst“ wahrnehmen, dann gäbe es keinerlei künstliche Trennung zwischen Selbst und Objekt, denn beide sind ein und dasselbe – und damit gäbe es auch nicht die Illusion von Dualität. Dann wüsste jeder schon bei seiner Geburt und ununterbrochen bis zu seinem Tod, dass er dieses Selbst ist und nichts anderes.
Aber das wäre dann wohl zu langweilig…