Die Virtualität ist die Spielwiese für Kinder

Die sogenannte Realität ist in Wirklichkeit nur eine Virtualität. Jegliche Anhaftung an die Welt oder an den Menschen oder dessen scheinbare Probleme, Sorgen und Ängste, sorgen zwangsläufig dafür, dass aus dieser luftigen Virtualität die scheinbare „harte Realität“ wird. Um das wenigstens ansatzweise zu verstehen, kann man das Beispiel des Kinos heranziehen.

Ein reales Wesen „sitzt“ alleine im Kinosaal und schaut auf die Leinwand. Solange die Leinwand dunkel ist oder dort nichts „wichtiges“ passiert, kann dieses Wesen dabei immer gleichzeitig wissen, dass es das wahre Wesen ist und nicht das Geflimmer auf der Leinwand. Sobald die Szenerie aber „spannend“ wird, „mitreißend“, „bedrohlich“ oder „anziehend“, wird das Wesen dort hinein gezogen und beginnt sich mit dem Akteur zu identifizieren und das virtuelle Geflimmer als Realität zu betrachten. Kurz: es vergisst seine wahre Identität und wird zum bildhaften Akteur.

Solange das Wesen nicht gelernt hat, an sich selbst und seiner eigenen Identität festzuhalten und alles andere als Scheinexistenz von sich zu weisen, wird es immer wieder die leidvolle Erfahrung machen müssen, sich nur als Mensch zu erleben. Genau das erlebe ich in den letzten Tagen sehr stark. Ich bin noch nicht soweit, identisch mit dem inneren Wesen zu sein. In der Meditation ist das normalerweise kein Problem – da komme ich dahin, zu erkennen, zu fühlen und innerlich zu wissen, wer und was ich wirklich bin und damit zu verschmelzen. Aber im täglichen Leben passiert es sehr häufig, dass ich das Innere vergesse und vollkommen im Menschsein absorbiert werde. Je nach Situation dauert das wenige Minuten, bis zu Stunden oder auch den ganzen Tag.

Gestern kam es dazu, dass ich mich in einer Situation vorfand, die als Mensch nur schlecht zu ertragen ist. Ich fand mich in eine Ecke gedrängt, mit der Intention und der Möglichkeit, etwas „wichtiges“ zu tun – aber die äußeren Umstände waren derart, dass es einfach nicht zugelassen wurde. Es war, als wollte der Körper voller Energie losrennen, konnte aber nicht, weil er in einem Gitterkäfig eingesperrt war. Ich fühlte mich, wie ein wildes Tier, das in die Freiheit fliehen wollte – aber gewaltsam zurückgehalten wurde.

Heute morgen wachte ich auf und fühlte immer noch das gleiche aber in abgeschwächter Form. Nachdem ich mich zur Meditation niedergesetzt hatte, fühlte ich aber, dass da noch etwas Zusätzliches war – so etwas wie ein weit entferntes und doch ganz nahes inneres Lächeln, eine innere Weisheit, die klar wusste, dass all das nur ein Scheingefecht ist. Als ich das spürte, fiel ich in mich selbst hinein und wusste im gleichen Moment, dass ich mich wieder einmal komplett vergessen hatte – und dass diese Situation geschaffen worden war, um mir das klar vor Augen zu führen. Das ist nicht ganz richtig:

JEDE  Situation ist nur dazu da, um mir DAS bewusst zu machen.

Der Mensch in seiner Welt ist lediglich ein Mittel zur Entwicklung des inneren Wesens. Der Mensch muss erkennen und anerkennen, dass er und die Welt nur eine Virtualität ist und keine Realität – und er muss sich dem freiwillig beugen und dem inneren Wesen hingeben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stimmt der Ausspruch: Ich bin nicht für mich in dieser Welt. Er muss aber noch ergänzt werden um: Ich bin hier, um zu erkennen, wer ich wirklich bin, was mich hervorbringt und wie ich mit dem verschmelzen und mich ihm hingeben kann.

Alles andere gehört zur Virtualität und muss als „Mensch“ ausgehalten und gelebt werden. Gleichzeitig muss dabei aber immer klar gefühlt und gewusst werden, wer und was ich wirklich bin und der Kontakt dazu darf nicht abreißen. Reißt der Kontakt mit dem wahren Wesen ab, zeigt das klar an, dass die Arbeit mit dem Bewusstsein noch nicht beendet ist – und die Häufigkeit des Abreißens zeigt gnadenlos das Ausmaß der eigenen Unfähigkeit und des eigenen Unverständnisses auf. Kurz: je häufiger das passiert, umso näher steht der Fortschritts-Anzeiger an der Null.

Immerhin kann ich sehen, dass es ich keinesfalls schon „etwas erreicht habe„. Ich stehe immer noch ganz am Anfang. Erst dann, wenn der Kontakt nicht mehr abreißt, wenn immer und zu einhundert Prozent klar ist, was ich bin und wenn ich mit dem identisch und verschmolzen bin – und mich nicht mehr mit dem virtuellen „Kinohelden“ verwechsle und in dessen Trivialitäten hineinziehen lasse – erst dann kann ich von einem Fortschritt sprechen. Fort vom Menschen, hin zum wahren Wesen meiner Selbst.

Das menschliche Leben muss gelebt werden, wie es sich zeigt – aber im Vordergrund des Bewusstseins muss immer das Innere stehen. Es wäre falsch nur das äußere Leben leben zu wollen – es wäre aber genauso falsch, nur das innere Leben leben zu wollen. Dieses Leben ist dazu da, zu erkennen, was ich wirklich bin, damit zu verschmelzen und mich dem hinzugeben – und eine gesunde und natürliche Balance zwischen den beiden Polen dieser Existenz (Realität und Virtualität) aufzubauen.

Aus der Sicht des äußeren Lebens – also mit der externen Aufmerksamkeit gesehen – ist das Innere nicht sichtbar und fühlbar und damit nicht existent. Das ist der Grund dafür, dass kaum jemand dessen Existenz kennt und sich bemüht, sich damit zu verbinden. Aus der Sicht des inneren Wesens betrachtet, ist das Äußere nicht existent. Das kann man klar erkennen, wenn man in der Meditation in die Schicht hinein kommt, in der eine „knackige“ innere Klarheit, Tiefe und Transparenz und tiefste Schwärze herrschen. Dort ist nichts schwammig oder unscharf – alles ist extrem fein und scharf. Von dort aus betrachtet ist der Körper und die zugehörigen Wahrnehmungen praktisch nicht existent. Sie wirken wie ein weit entfernte und unscharfe Schale um das Eigentliche herum – wie die Elektronen, die den Atomkern umkreisen.

An der Art, wie ich hier agiere und immer noch versuche, mein eigenes Süppchen zu kochen, erkenne ich deutlich, dass es einer klaren und konsequenten Intention bedarf, um die nötige Dringlichkeit und Disziplin aufzubauen, sich kompromisslos und endgültig nach innen zu wenden. Ich sehe aber auch, dass dieses „Versagen“ daran liegt, dass ich so lange nicht wusste, was meine wahre Aufgabe ist – uralte Gewohnheiten wirken sich hier aus. Es ist ein langer Lernprozess, der sich hier entfaltet und ich bin froh, das klar sehen zu können. Anfängerschaft ist nichts Schlimmes, denn jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt – aber nach dem ersten Schritt zu glauben, ich wäre schon fast am Ziel – das wäre einfach nur dumm und überheblich.

Um es ganz klar zu sagen: spirituell gesehen bin ich immer noch ein sehr kleines Kind, das seine bunten Bauklötze (Ego, Objekte, Einbildungen, Vorstellungen) noch nicht loslassen will.