Das Funktionsprinzip des Anhaftens

Die Lektüre des wunderbaren, kleinen Büchleins Kernholz des Bodhibaums hat mich gerade in der Badewanne dazu gebracht, das Funktionsprinzip des Anhaftens zu durchschauen und beobachten zu können. Dabei ist mir dann auch aufgefallen, dass bei mir immer noch anhaften passiert – allerdings in einem ganz subtilen Bereich – und zwar in Bezug auf die angenehmen Gefühle, die im aktuell vorherrschenden Zustand zwangsläufig auftreten und in dem Beitrag Stille, Frieden und Freude beschrieben wurden.

Ich werde im Folgenden die Fachsprache eines Informatikers benutzen, denn nur durch eine exakte und analytische Betrachtung und Beschreibung der Vorgänge, wird klar werden, wie der Mechanismus des Anhaftens vor sich geht. Außerdem handelt es sich dabei tatsächlich um eine besondere Art der Datenverarbeitung.

In einem aktiven Sinnesorgan, wie zum Beispiel dem Auge, läuft ein ständiger Prozess des Sehens ab – und zwar auch dann, wenn es gar nichts zu sehen gibt. Das Ergebnis des Seh-Prozesses ist ein ununterbrochener Strom von Informationsobjekten. In jedem dieser Objekte ist die Information vorhanden, über das, was gerade gesehen wird. Diese Informationsobjekte sind keine physischen Objekte, sondern nur Informationen über (scheinbar physische) Wahrnehmungs-Objekte des zugehörigen Sinnesorganes. Diese Informationsobjekte werden in das Bewusstsein transportiert.

Da der Mensch über fünf äußere Sinnesorgane verfügt (es gibt auch noch innere, nicht-physische Sinnesorgane), die im Wachzustand ununterbrochen aktiv sind, trifft ein ständiger Strom von Informationsobjekten, aus mindestens fünf Kanälen gleichzeitig, im Bewusstsein ein. Das Bewusstsein fungiert für diese Informationsobjekte als eine Art Hauptspeicher und Verarbeitungszentrum in dem die gerade aktiven Informationsobjekte solange gehalten werden, bis sie vom nächsten Informationsobjekt aus dem jeweils zugehörigen Sinnesorgan ersetzt werden.

Im Bewusstsein gibt es einen Selektions-Mechanismus, der in der Lage ist, aufgrund der Eigenschaften aller Informationsobjekte, ein bestimmtes Objekt auszuwählen und die Aufmerksamkeit darauf zu richten. In dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Informationsobjekt gerichtet wird, entsteht ein Kontakt im Bewusstsein, zwischen diesem Informationsobjekt und einem weiteren Prozess, der den Informationsgehalt des Objektes genauer analysiert. Im Rahmen dieses Analyseprozesses, der blitzschnell vor sich geht, entstehen Gefühle, die sich darauf beziehen, wie der vorliegende Informationsgehalt in Bezug auf den gesamten Psycho-physischen Mechanismus einzuschätzen ist. Diese Gefühle drücken zum Beispiel aus: gefährlich, ungefährlich, schmerzhaft, unangenehm, neutral, angenehm, schön.

Sobald solch ein Gefühl auftritt, kommt ein weiterer Prozess zum Tragen, der sich dieses Gefühles bemächtigt: der Ich-Prozess. Dieser entsteht beim Aufwachen, aus der dem Bewusstsein inhärenten Funktion des Sich-seiner-selbst-bewusst-seins, das – da es sich selbst nicht wahrnehmen kann – unterbewusst auf das zuerst auftretende Informationsobjekt projiziert wird: das Körper-Informationsobjekt. Dieser Körper-Ich-Prozess oder Ich-Prozess bemächtigt sich des auftretenden Gefühles und es bilden sich dann entweder Gedanken in der Form: „das mag ich“, „das mag ich nicht“  und/oder es werden blitzartig unterbewusste Greif- oder Abwehrreaktionen aktiviert. Das ist das eigentliche Anhaften.

Wie oben bemerkt, gelang es vorhin, in aller Ruhe, mehrfach zu beobachten, wie dieser Prozess im Einzelnen vor sich geht. Das sind ganz subtile Vorgänge, die man aber deutlich unterscheiden kann – wenn innen und außen keinerlei Ablenkungen sind und man sich über längere Zeit auf einen einzelnen Sinneskanal und die Vorgänge im Bewusstsein und die feinen Energieflüsse im Körper konzentrieren kann. Wenn man sehr genau beobachtet und fühlt, dann kann man die ganze Prozesskette in einzelne Bestandteile zerlegen und genau analysieren.

Vermeiden des Anhaftens

Jetzt kommt der wichtigste Part: Wie kann man das Anhaften vermeiden? Zuerst ist natürlich wichtig, exakt zu wissen, wie der Vorgang vor sich geht. Wenn das bekannt ist, gilt es, die auftretende Prozesskette zu unterbrechen – und zwar vor dem Aufkommen des Ich-Prozesses, der solange suspended ist (schläft), wie keine für ihn relevanten Informationen vorhanden sind. Sobald diese Informationen auftreten, wird der Ich-Prozess geweckt und dann wird er greifen und anhaften, denn das ist die Aufgabe, für die er entworfen wurde.

Darum sagt man, dass in Abwesenheit eines Denkers kein Ich da ist – und umgekehrt. Was aber nicht ganz richtig ist – es ist da aber es ist deaktiviert, es schläft, bis es vom Betriebssystem (Unterbewusstsein) aufgeweckt wird. Das Betriebssystem weckt den Ich-Prozess aber erst dann auf, wenn der Selektions-Prozess die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Informationsobjekt richtet.

Somit haben wir die Lösung, um ein Anhaften bewusst zu verhindern: Es muss zuverlässig verhindert werden, dass sich die Aufmerksamkeit auf ein Objekt fokussiert. Die Aufmerksamkeit muss dazu immer unfokussiert auf den gesamten Bewusstseinsraum gerichtet sein! Das ist nicht ganz einfach, da der  Bewusstseinsraum nicht sinnlich wahrnehmbar ist und die Aufmerksamkeit daher „frei schwebend“ gehalten werden muss.

Die Aufmerksamkeit besitzt aber eine unterbewusste Tendenz, sich irgendwo anzuhaften, die von dem oben beschriebenen aktiven Selektions-Mechanismus befeuert wird – das ist auch der Grund für die Entstehung des Ich-Prozesses. Das macht es mühsam, die Aufmerksamkeit „frei schwebend“ zu halten. Dazu gibt es aber eine elegante Lösung: Da immer nur ein Informationsobjekt pro Zeiteinheit fokussiert werden kann, legt man einfach den Fokus auf etwas, das vom Betriebssystem (Unterbewusstsein) nicht als Objekt erkannt wird und daher den Ich-Prozess nicht aufweckt: den inneren Ton (anahata nada).

Dieser unhörbare Ton, ist kein Informationsobjekt! Warum ist er kein Informationsobjekt? Weil er nicht von einem der äußeren Sinesorgane wahrgenommen wird, sondern direkt vom Bewusstsein selbst. Er ist immer da, hat keinen Anfang und kein Ende und ist überall im Universum gleichmäßig vorhanden. Er stellt so etwas wie die kosmische Hintergrundstrahlung des absoluten Bewusstseins dar.

Wenn also die Aufmerksamkeit auf diesen nicht-objektiven Ton fokussiert wird, kann kein Informationsobjekt in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen. Und wenn kein Informationsobjekt direkt fokussiert wird, dann wird der Ich-Prozess nicht geweckt, was das Anhaften und Greifen zuverlässig verhindert. Wenn man den inneren Ton als dauerhaftes Hintergrundgeräusch erlebt, wie es bei mir ist, dann schaut man einfach durch diesen Ton auf die Gesamtheit der Objekte. Der innere Ton erfüllt dann die Räumlichkeit des Bewusstseins, beleuchtet seine Ausdehnung und umfasst und durchdringt alle Objekte gleichzeitig. Wenn man den Ton auf diese Art erfasst, dann kann man die Ausdehnung des Bewusstseins, mit dem Ton als Mittler, direkt erleben.

Somit haben wir hier auch die Erklärung, warum auch das unfokussierte Schauen nach außen und innen zugleich, das Denken, Greifen und Anhaften zuverlässig verhindert. Wenn man es schaffen könnte, beim Aufwachen als erstes den inneren Ton zu fokussieren und nicht das Körper-Informationsobjekt, dann könnte man vielleicht sogar das Starten des Ich-Prozesses verhindern. Das ist aber nur eine These, die solange unbewiesen bleibt, bis das gelingt. Dazu müsste der Turiya-Zustand rund um die Uhr bewusst erlebt werden, was momentan noch nicht der Fall ist.

Die Lösung für das Greifen und Anhaften besteht also darin, entweder den Fokus der Aufmerksamkeit frei schwebend zu halten und kein einzelnes Informationsobjekt zu fokussieren – oder den inneren Ton dauerhaft zu fokussieren. Letzteres ist mühelos, funktioniert absolut zuverlässig und reinigt gleichzeitig das Bewusstsein und die Wahrnehmung!