Der Gesang des Tilopa

Ich habe gerade das Lied des Tilopa (9.-10. Jahrhundert) im Netz gefunden, als ich nach „Geist und Wasserfall“ gesucht habe. Es beschreibt exakt meine Erfahrung – besonders in der letzten Strophe:

Am Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist abstürzt wie ein Wasserfall;
Dann, auf halbem Wege, strömt er dahin, langsam und sacht wie der Ganges.
Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer,
Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen.

Ab Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist abstürzt, wie ein Wasserfall. Genau das ist gestern geschehen – wie ich hier beschrieben habe. Es ist immer wieder ein Problem, wenn sich neue Erfahrungen auftun, ohne, dass ich eine Referenz habe, nach der ich mich richten kann. Aber dieser eine Satz, gefolgt von den drei anderen, die ich auch schon teilweise verifizieren konnte, zeigen, dass das, was ich erlebe, nicht eine Spinnerei in meinem Hirn ist, sondern genau das ist, was passieren muss, auf diesem Nicht-Weg.

Früher wurden Erkenntnisse hauptsächlich in Form von Hymnen oder Liedern weitergegeben. So hat auch Tilopa seine Erkenntnisse in Form eines Liedes zusammengestellt und an seinen Schüler Naropa weiter gegeben. Ein Glück, dass er das so klar ausgedrückt hat! Und hier folgt das Lied des Tilopa, das ich im Netz gefunden und an einigen Stellen leicht abgeändert und kommentiert habe:

  1. Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole,
    Aber für Dich, Naropa, ehrlich und loyal, muss dies gesagt werden.
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  2. Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht im Nichts,
    Ohne jede Anstrengung, einfach nur, indem du gelöst und natürlich bleibst,
    Kannst du das Joch zerbrechen und Befreiung erlangen.
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  3. Wer (unfokussiert) in den Raum schaut, ohne etwas direkt anzuschauen,
    Wer mit dem Verstand den Verstand (unfokussiert) beobachtet,
    Der zerstört alle Unterscheidungen und erreicht die Buddhaschaft.
    (Hier spricht er die Übung zur Vereinigung der Räume an)
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  4. Die Wolken, die über den Himmel ziehen, haben keine Wurzeln und keine Heimat,
    Genauso ist es mit den unterschiedenden Gedanken, die durch Deinen Geist ziehen.
    Sobald der Verstand (unfokussiert) beobachtet wird, stoppt die Unterscheidung.
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  5. Formen und Farben bilden sich im Raum
    Aber weder schwarz noch weiß hinterlassen Spuren in ihm.
    Aus dem Selbst-Geist gehen alle Dinge hervor,
    Aber er wird nicht befleckt von Tugenden und Lastern.
    (Das leere Bewusstsein (Selbst-Geist) ist nichts anderes, als der Raum, in dem etwas erscheint.
    Dieser leere Raum bist Du, er wird niemals befleckt oder gefärbt – er bleibt immer rein)
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  6. Die Finsternis von Jahrtausenden kann nichts gegen die glühende Sonne ausrichten;
    Die langen Zeitalter des Samsara können das helle Licht des Geistes nicht verbergen.
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  7. Obwohl wir Worte brauchen, um die Leere zu erklären, ist doch die Leere selbst nicht ausdrückbar.
    Wir sagen zwar: „Der Geist, das reine Bewusstsein ist ein helles Licht“,
    Doch lässt es sich mit Worten und Symbolen nicht erfassen,
    Bewusstsein ist in seinem Wesen leer, und doch umfasst und enthält es alle Dinge.
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  8. Tue nichts mit dem Körper – entspanne dich nur,
    Verschließe fest den Mund und sei still.
    Entleere deinen Geist und denke an nichts.
    (Fröne keinen zwanghaften Aktivitäten und praktiziere keine Yoga-Übungen.
    Lasse alle Aktionen sich spontan entfalten, entspanne den Geist und greife nicht ein)
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  9. Lasse deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhen.
    Denke nicht über Geben und Nehmen nach, lasse deinen Geist ruhen,
    Mahamudra ist wie ein Geist, der sich an nichts klammert.
    Wenn du dich darin übst, wirst du bald die Buddhaschaft erreichen.
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  10. Kein Üben von Mantras und Paramitas,
    Kein Unterricht in Sutras und Geboten,
    Kein Wissen aus Schulen und Schriften,
    Führt zur Erkenntnis der eingeborenen Wahrheit.
    (Gedanken und Gedächtnisinhalt sind nur Worte ohne Gehalt)
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  11. Denn wenn der Geist nach etwas strebt,
    Erfüllt von Sehnsucht nach dem Ziel,
    Verhüllt er damit nur das Licht.
    (Wenn der Geist strebt, entsteht ein Ich und ein Ich stärkt wiederum den Geist)
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  12. Wer sich an tantrische Gebote hält und dennoch urteilt,
    Begeht Verrat am Geist des Samaya.
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  13. Gib alles Tun und Wünschen auf,
    Lass die Gedanken steigen und verebben wie sie wollen,
    Wie die Wellen des Meeres.
    (Handle spontan, ohne zu denken, greife nicht gedanklich ein, egal, was geschieht)
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  14. Wer die Vergänglichkeit niemals vergisst,
    Noch das Prinzip der Urteilslosigkeit,
    Der richtet sich nach tantrischem Gebot.
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  15. Wer alles Sehnen und alle Begierden aufgibt,
    Sich nicht an dieses oder jenes heftet,
    Erkennt den wahren Sinn der Schriften.
    (Hafte an nichts, lasse alles einfach durchlaufen und
    beobachte entspannt, mit ruhigem Geist)
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  16. Im Mahamudra verbrennen alle deine Sünden;
    Im Mahamudra wirst du aus dem Gefängnis der Welt entlassen.
    Es ist die hellste Flamme des Dharma.
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  17. Die das nicht glauben, sind Narren,
    die sich in Elend und Sorgen ewig wälzen.
    Verlass dich, um zur Freiheit zu gelangen, auf die Hilfe eines Guru.
    Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, ist die Befreiung nah.
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  18. Alle Dinge dieser Welt sind ohne Bedeutung,
    nichts anderes als Keime neuer Leiden.
    Kleine Lehren predigen Taten – folge der großen Lehre.
    (Kleine Lehren sind zB Yoga und alle Religionen, sie lehren Taten;
    Die große Lehre ist das Tantra – es lehrt das Nicht-Tun)
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  19. Die königliche Sicht geht über alle Dualität hinaus.
    Die königliche Methode überwindet alle Ablenkungen,
    Der Weg der Nicht-Methode ist der Weg aller Buddhas,
    Wer diesen Pfad betritt, wird die Buddhaschaft erreichen.
    (Das ist der Nicht-Weg des Tantra, er lehrt das Nicht-Tun)
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  20. Vergänglich ist diese Welt,
    Substanzlos wie Phänomene und Träume.
    Entsage Ihr und verlasse die Deinen.
    Zerschneide die Bande von Lust und Hass
    Und meditiere an einsamem Ort.
    (Das ist der kämpfende Weg des Yoga und aller Religionen, der Weg des Tuns)
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  21. Wenn du ohne Mühe gelöst und natürlich bleiben kannst,
    Wirst du bald von Mahamudra erreicht und du trägst den „Nicht-Sieg“ davon.
    Schlag einem Baum die Wurzeln ab, und seine Blätter welken;
    Schlag deinem Geist die Wurzeln ab, und das Rad der Welt zerfällt.
    (Alle Dinge erscheinen im Geist; Wenn man ihn unbeteiligt beobachtet,
    verebben alle Gedanken, Unterscheidungen und Bindungen und man wird frei.)
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  22. Eine einzige Lampe vertreibt in einem Augenblick die Dunkelheit ganzer Zeitalter.
    Das helle Licht des Geistes verbrennt mit einem Blitz den Schleier der Unwissenheit.
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  23. Wer sich an den Geist klammert,
    Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits davon ist.
    Wer sich bemüht das Dharma einzuüben,
    Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits aller Übung ist.
    (Das bezieht sich auf Gehirn-Akrobaten, Denker)
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  24. Wer wissen will, was jenseits von Geist und Übung ist,
    Sollte die Wurzeln seines Geistes durchtrennen,
    Und mit nacktem Blick (unfokussiert) schauen.
    Trenne Dich von allen Unterscheidungen – und ruhe in dir.
    (Der Verstand (Geist, Mind) besteht nur aus dem Fluss der Gedanken und Objekte darin;
    Wird dieser beobachtet, so stoppt er und alle Unterscheidungen fallen weg)
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  25. Ohne über Geben und Nehmen nachzudenken, verbleibe natürlich,
    denn Mahamudra liegt jenseits von Akzeptanz und Zurückweisung.
    Weil alaya (das reine Bewusstsein) nicht geboren wird,
    Kann niemand es behindern oder beflecken;
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  26. Wer in der ungeborenen Realität verweilt,
    Dem löst sich aller Schein ins Dharma auf,
    Und Eigenwille und Stolz verschwinden im Nichts.
    (Die ungeborene Realität ist identisch mit dem leeren Geist, dem leeren Raum;
    Im leeren Raum erscheinen spontan alle Objekte und Aktionen und vergehen wieder;
    Im Erkennen, dass alles von selbst geschieht, verschwinden Eigenwille und Stolz)
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  27. Die höchste Einsicht überschreitet die Welt von Diesem und Jenem.
    Das höchste Handeln vereinigt grosse Schöpferkraft mit Ungebundenheit.
    Die höchste Vollendung erkennt das „so Sein“ ohne jede Hoffnung.
    (Sei einfach Du selbst, der leere Raum und lasse alles geschehen und vergehen, wie es will;
    Kümmere Dich nicht um das, was ist und kommen mag (Hoffnung=Angst+Gier))
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  28. Im Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist abstürzt wie ein Wasserfall;
    (Am Ende dieses Abschnitts wird das Ich aufgelöst – trotz der Angst muss man weiter gehen!)
    Dann, auf halbem Wege, strömt er dahin, langsam und sacht wie der Ganges.
    (Jetzt wird es sehr schön – aber man darf sich nicht festhalten, sondern muss weiterfließen)
    Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer,
    (Auch das Eingehen ins Meer des absoluten Bewusstseins muss freiwillig erfolgen)
    Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen.
    (Am Ende wird auch noch der Erlebende aufgelöst, übrig bleibt nur der Prozess der Existenz)

Quelle: http://akroasis.oktave.ch/Tilopa/Tilopas_Mahamudra.htm

Siehe auch Mahamudra in Kürze von Naropa:

Maitripa: Die Essenz von Mahāmudrā

Ich verbeuge mich vor der Großen Glückseligkeit
und werde Mahāmudrā erläutern.
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Alle Erscheinungen sind dein eigener Geist;
die Wahrnehmung äußerer Objekte ist eine Gestaltung des Geistes;
wie ein Traum sind sie leer von einer wahren Natur.
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Auch der Geist ist nur ein Fluß von Wahrnehmungen und Gedanken,
er ist ohne eine wahre Natur, [wie] die Kraft des Windes,
er ist leer von einem Selbst, wie der Himmelsraum.
Alle Erscheinungen sind so, gleichen dem Himmelsraum.
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Das ist Mahāmudrā, wie wir es nennen.
Es hat keine Identität, die gezeigt werden kann;
daher ist die Natur des Geistes selbst
gerade jener Zustand der Mahāmudrā
(weder gemacht noch sich wandelnd).
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Wenn du diese grundlegende Wirklichkeit tief verstehst,
dann erkennst du alles was kommt und geht als Mahāmudrā,
den alldurchdringenden Dharmakāya.
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Ruhe in der wahren Natur, frei von allem Denken.
Meditiere, ohne nach dem Dharmakāya zu suchen —
er ist jenseits von Gedanken.
Wenn dein Geist sucht, verwirrt sich deine Meditation.
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Da gibt es weder Meditation noch Nicht-Meditation,
einfach nur magische Erscheinungen im Himmelsraum,
wie könnte es also Freiheit oder Nicht-Freiheit geben?
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Der Yogi, der das erkennt, wird durch dieses Verstehen
vom Karma aller heilsamen und unheilsamen Handlungen befreit..
Neurotische Emotionen sind (die Basis) große(r) Einsicht,
wie Holz für ein Feuer, so sind sie für den Yogi Brennstoff!
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Wo kann es dort ein Gehen und Verweilen geben?
Was kann es für eine Meditation in der Zurückgezogenheit geben?
Wer dies nicht verwirklicht,
erfährt noch nicht einmal oberflächliche Befreiung.
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Was kann jemanden binden, der dies verwirklicht hat?
Das unzerstreute Verweilen in jenem Zustand,
ohne Veränderung von Körper oder Geist und ohne Meditation,
‚Weder ruhend noch nicht-ruhend in Gleichmut‘.
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Nichts wird letztlich erreicht,
alles Erscheinende hat keine inhärente Natur.
Erscheinungen befreien sich aus sich selbst heraus (ganz natürlich),
sie sind der Dharmadhātu,
Verwirklichung befreit sich aus sich selbst heraus (ganz natürlich),
sie ist die große Weisheit,
diese immergleiche Nicht-Dualität ist der Dharmakāya.
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Wie ein unablässig fließender, weiter Strom,
welche Welle auch immer, sie enthält die Bedeutung,
sie ist der zeitlose, erwachte Zustand —
Große Glückseligkeit ohne jeden samsarischen Bezug.
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Alle Erscheinungen sind leer von einer inhärenten Natur,
der Geist, der sich an die Leerheit hält,
verschmilzt mit seinem eigenen Grund.
Freiheit von allem Konzeptualisieren
ist der Pfad aller Buddhas.
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Ich habe diese Zeilen zusammengestellt,
auf daß sie bis in kommende Zeiten fortwirken mögen.
Mögen durch diese Tugend alle Wesen ohne Ausnahme
in dem erhabenen Zustand von Mahāmudrā verweilen.
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Dies wurde vom großen Pandit Nāropa in Pullahari gesprochen,
in der Gegenwart von Marpa Chökyi Lodrö und auf dessen Bitte hin.